Das selbständige Beweisverfahren in Frankreich («référé-expertise»)

05.01.17
Beweis über das Verfahren vor Gericht
Beweis über das Verfahren vor Gericht
Beweis über das Verfahren vor Gericht

Die Teilnahme an einem selbständigen Beweisverfahren in Frankreich

Es kommt regelmäßig vor, dass eine deutsche Gesellschaft vor einem französischen Gericht im Rahmen eines selbständigen Beweisverfahrens (früher im Gesetz „Beweissicherungsverfahren“ genannt) verklagt wird.

Das ist zum Beispiel der Fall, wenn ein deutscher Hersteller wegen vom französischen (End-) Kunden geltend gemachter Mängel an einer gelieferten Maschine in Frankreich auf Teilnahme an einem Beweisverfahren verklagt wird. In diesem Falle erhält der deutsche Hersteller das gerichtliche Schriftstück der Streitverkündung von seinem französischen Kunden.

Bauunternehmen, die sich an einer Baustelle in Frankreich beteiligt haben, werden auch häufig auf Teilnahme an einem Beweisverfahren in Frankreich verklagt.

Verklagte deutschen Firmen stellen in diesem Zusammenhang oft viele Fragen, wie zum Beispiel: Wie läuft dieses Verfahren in Frankreich ab? Muss man sich daran beteiligen? Ist das Verfahren gegen eine ausländische Gesellschaft überhaupt zulässig? Ist es mit dem deutschen Beweisverfahren vergleichbar?

Ein deutsches Unternehmen kann sich entweder selbst oder über seine französische Tochtergesellschaft wegen eines Mangels an einer Sache nach französischem Recht auch auf der Klägerseite im französischen Beweisverfahren befinden. Mit der Klage auf Eröffnung eines Beweisverfahrens kann die französische Gesellschaft den Beweis der Mängel sichern, die Verantwortung des Verkäufers bzw. Herstellers feststellen bzw. den Wert des Schadens unbestreitbar ermitteln lassen.

Ein selbständiges Beweisverfahren findet zwangsläufig vor einem französischen Gericht statt, wenn die beantragten Maßnahmen in Frankreich stattfinden sollen, selbst wenn eine der beteiligten Parteien in Deutschland ansässig ist. Es ist daher nie die richtige Haltung für eine deutsche Firma, die verklagt wurde, das Beweisverfahren in Frankreich einfach zu ignorieren.

Das Ziel des französischen Beweisverfahrens

Das Beweisverfahren dient dem Antragsteller dazu, sich ein Beweismittel zu sichern oder erstellen zu lassen, um dieses Beweismittel anschließend im Rahmen eines Hauptstreitverfahrens über die Haftung der Gegenseite in dessen Eigenschaft als Hersteller bzw. Verkäufer oder auch Dienstleister zu benutzen.

Folgende Maßnahmen zur Beweissicherung können zum Beispiel beantragt werden:

  • Die Übermittlung eines wichtigen Beweisstücks, das sich in fremdem Besitz befindet (wie z.B. im Besitz eines Wettbewerbers) oder
  • Der Zugriff auf fremdes Eigentum durch einen Gerichtsvollzieher

Mangel an einer MaschineWenn es zum Zwecke der Sicherstellung des Erfolgs der Maßnahme nicht erforderlich ist, kann manchmal, unter strengen Voraussetzungen, der kontradiktorische Charakter des Beweisverfahrens nicht berücksichtigt werden. (siehe unser Blog-Artikel vom 24.11.2016)

Ein Beweisverfahren hat ebenfalls meistens zum Zweck, die für den Schaden Verantwortlichen dank eines vom Gericht bestellten Sachverständigen sowie gegebenenfalls die Haftungsquoten der verschiedenen Verantwortlichen zu bestimmen. Sinn und Zweck für den Antragsteller ist es dabei, die Meinung eines neutralen Sachverständigen in Form eines Berichts zu erhalten, wobei dessen Feststellungen dann allen Verfahrensbeteiligten entgegengehalten werden können. Das kontradiktorische Sachverständigengutachten ist sogar oftmals die Haupt-Beweismaßnahme.

Das selbständige Beweisverfahren außerhalb eines Streitverfahrens oder während eines Streitverfahrens

In Frankreich wird der Großteil der Beweisverfahren (z.B. Gewährleistungs- bzw. Produkthaftungsstreitigkeiten) vor der Einleitung eines Streitverfahrens über die Haftung bzw. sonstige Ansprüche des Antragstellers im Eilverfahren gemäß Artikel 145 der französischen ZPO (Code de Procédure Civile) beantragt, obwohl das französische Zivilprozessrecht, genauso wie das deutsche Zivilprozessrecht, es auch ermöglicht, die selbständige Beweisaufnahme während des Streitverfahrens durchzuführen.

Anders als im deutschen Zivilprozessrecht, welches in den §§ 485 ff. das selbständige Beweisverfahren allgemein regelt, gilt nach französischem Zivilprozessrecht eine gesonderte Vorschrift für das selbständige Beweisverfahren vor dem Streitverfahren (Artikel 145 der französischen ZPO) und eine andere Rechtsgrundlage für das selbständige Beweisverfahren während des Streitverfahrens (Artikel 771 Nr. 5 der französischen ZPO).

Französische Antragsteller bevorzugen oft den Antrag im Eilverfahren vor Einleitung eines gerichtlichen Streitverfahrens, weil sie damit die Gewinnchancen einer zukünftigen Haftungsklage besser vorab einschätzen können. Ist das Ergebnis des Sachverständigengutachtens oder die Suche nach einem Beweismittel nicht positiv für den Beweisführer, wird er in der Regel keine Klage erheben, um ein Verfahren zu vermeiden, bei dem die anderen Verfahrensbeteiligten möglicherweise gewinnen.

Die Wahl des selbständigen Beweisverfahrens anstelle des Privatgutachtens

Im selbständigen Beweisverfahren (sowie übrigens bei der Beweisaufnahme im Streitverfahren) wird der Sachverständige vom Richter ernannt, ohne dass der Antragsteller oder der Gegner die Wahl des Sachverständigen beeinflussen können. Ferner entscheidet der Sachverständige in voller Unabhängigkeit und unter Aufsicht des Richters über die zu treffenden Maßnahmen zur Ermittlung der Tatsachen.

Wird dagegen ein Sachverständiger frei von einer oder mehreren Parteien ohne Antrag vor dem Gericht bestellt (Privatgutachter), besteht die Gefahr, dass die anderen Parteien die Unabhängigkeit des gewählten Gutachters in Frage stellen und daher auch die Ergebnisse seiner Analyse des Falles.

Die GutachterEin Privatgutachter steht außerdem häufig in der Kritik, nicht allen Beteiligten die Möglichkeit zu geben, ihren Standpunkt zu vertreten und den Standpunkt der anderen Parteien zu kennen.

Der französische Kassationshof hat in diesem Zusammenhang sogar eindeutig klargestellt, dass das nicht-kontradiktorische Privatgutachten als kein ausreichendes Beweismittel im Rahmen eines Streitverfahrens zu betrachten ist.

Vor diesem Hintergrund werden solche Privatgutachten selten durch den Richter im Streitverfahren als Beweismittel anerkannt, vor allem nicht, wenn nur dieses Beweismittel vorgelegt wird.

Damit die künftige Klage gegen den Lieferanten Erfolgsaussichten hat, ist es ratsam, dass der Geschädigte in das selbständige Beweisverfahren geht und er oder seine Gegner einen Privatgutachter als Fachmann mit in das Beweisverfahren bringen.

Dies gilt allerdings nicht, wenn alle betroffenen Parteien sich auf einen gemeinsamen Privatgutachter geeinigt haben und laufend über alles im Verfahren informiert wurden und zu Wort kommen konnten.

Schwierig ist es jedoch, schon die Identität aller vom Problem betroffenen Personen von Anfang an zu kennen. So wird zum Beispiel oftmals erst nach einiger Zeit durch den Sachverständigen festgestellt, dass ein Teil der geschädigten Maschine, dessen Hersteller nicht von Anfang an beteiligt war, auch eine Rolle spielt. In diesem Fall kann die Bestellung eines Privatgutachters durch die neu dazu gekommene Firma leicht in Frage gestellt werden.

Die Voraussetzungen für den Antrag auf Bestellung eines Sachverständigen vor dem französischen Gericht

Artikel 145 der französischen ZPO sieht Folgendes vor: Wenn ein berechtigter Grund besteht, vor Einleitung eines Streitverfahrens ein Beweismittel zu erhalten oder erstellen zu lassen, von dem der Ausgang des Rechtsstreits abhängen könnte, so können alle gesetzlich zugelassenen Maßnahmen auf Antrag von jeder Person, die ein Interesse daran hat, angeordnet werden.

Der Antrag muss diese Voraussetzungen erfüllen. Anders als im deutschen Recht ist die Rechtsgrundlage für eine etwaige Haftung nicht Gegenstand der Debatte vor dem Richter. Diese Frage wird erst im Hauptverfahren aufgeworfen.

Dem Antrag auf ein Beweisverfahren wird jedoch trotz Vorliegen der Voraussetzungen des Artikel 145 der französischen ZPO nicht stattgegeben, wenn der Antragsteller auf andere Weise die benötigten Beweismittel erlangen kann bzw. hätte erlangen können (Artikel 146 der französischen ZPO). Es ist allerdings in der Praxis schwierig, diesen Verweigerungsgrund als Gegner geltend zu machen.

Die Strategie des Antraggegners

Gericht für die BeweissicherungWird ein Antrag auf Ernennung eines Sachverständigen unter den oben genannten Bedingungen gestellt, ist es in der Praxis schwer, diesem Verfahren als Antragsgegner zu entkommen, wenn der Antragsgegner vertraglich oder außervertraglich in egal welcher Weise in dieser Angelegenheit involviert ist.

Das Ziel eines gerichtlichen Sachverständigengutachtens und somit die Aufgabe des Sachverständigen ist, genauso wie nach deutschem Recht, den Schaden zu schätzen und die Schadensursache(n) zu bestimmen.

Zu den Aufgaben des Sachverständigen gehört üblicherweise auch, die notwendigen Maßnahmen zur Behebung des Schadens aufzuzeigen sowie die entsprechenden Kosten solcher Maßnahmen zu schätzen.

Deswegen besteht grundsätzlich kein Interesse der verklagten Personen an diesem Verfahren nicht teilzunehmen, sobald der Richter dem Antrag auf Bestellung des Sachverständigen bzw. auf Streitverkündung stattgegeben hat und somit die Feststellungen des Sachverständigen gegenüber der im Rahmen der Streitverkündung neu dazu gekommenen Parteien Gültigkeit haben.

Es ist eher im Regelfall zu empfehlen, am Beweisverfahren teilzunehmen und dabei die eigenen Argumente kontradiktorisch zu äußern, um den gerichtlich bestellten Sachverständigen vollständig zu informieren und sicherzustellen, dass der Sachverständige die eigenen Argumente bei der Meinungsbildung mit einbezieht.

Der typische Ablauf des Beweisverfahrens mit gerichtlicher Bestellung eines Sachverständigen in der Praxis

Selbständiges Bewiverfahren in Frankreich: Schritte

Zunächst hat der Antragsteller genau zu beschreiben, welchen Inhalt und welchen Zweck der Auftrag des Sachverständigen haben soll. Ist dies nicht bestimmt bzw. nicht umfassend genug, ist der Sachverständige dennoch an diesen schlecht beschriebenen Auftrag gebunden, wenn der Richter dem Antrag so stattgibt.

Der Richter darf den Auftrag nicht von sich aus ergänzen, auch wenn dieser unvollständig im Antrag beschrieben ist. Sollte der Richter einem Antrag stattgeben, der den Auftrag des Sachverständigen nicht genau genug bestimmt, kann dies negative Auswirkungen auf das Vorangehen der Arbeit des Sachverständigen haben. In diesem Fall kann der Bericht des Sachverständigen sogar das Ziel des Beweisverfahrens verfehlen, weswegen das Gutachten dann nur noch ein bedingtes Interesse für den Antragsteller hat. Eine sorgfältige Auftragsbeschreibung im Antrag ist aus diesem Grund für den Antragsteller dringend empfohlen.

Ähnlich wie die deutschen Sachverständigen, die in einer Liste der Handelskammer eingetragen sind, sind die französischen ernannten Sachverständigen in einer Liste des zuständigen Berufungsgerichts eingetragen.

Der Verfahrensgrundsatz des rechtlichen Gehörs aller Parteien ist während des ganzen Sachverständigengutachtens anwendbar.

Das bedeutet also, dass jede Partei ihre Argumente während des ganzen Verfahrens geltend machen kann. Diese Argumente müssen somit allen Beteiligten bekannt sein und können auch von jedem Beteiligten kritisiert werden. Außerdem wird jede Feststellung durch den Sachverständigen jeder Partei mitgeteilt, damit sie ihre Bemerkungen dazu geltend machen kann. Der Sachverständige hat stets für den kontradiktorischen Charakter des Sachverständigengutachtens zu sorgen.

Die Parteien haben somit die Möglichkeit, ihre Argumentationen schriftlich zu äußern (in sog. „Dires“- „Aussagen“ auf Deutsch), damit die anderen Parteien sowie der Sachverständige selbst auf diese Argumente antworten können. Diese Argumentationen werden anschließend dem Bericht des Sachverständigen beigefügt.

Ferner haben die Parteien, und insbesondere der Gegner, die Möglichkeit, sich von einem eigenen „Privatgutachter“ (z.B. einem Sachverständigen der Versicherungsgesellschaft) helfen zu lassen.

Am Anfang des Verfahrens lädt der Sachverständige alle Beteiligten zu einem ersten Ortstermin vor, um seine Aufgabe zusammenzufassen und Fragen über den Sachverhalt zu stellen.

In den in der Einleitung genannten Fallbeispielen wird z.B. der Käufer der geschädigten Maschine erklären, ab wann er den Schaden bemerkt hat und wie der Schaden entstanden ist.

Der SachverständigerEntsprechend der Komplexität der Angelegenheit wird entweder ein einziger oder mehrere Ortstermine bestimmt, wobei in der Regel ein genauer Terminplan vom Sachverständigen erstellt werden sollte. Allerdings kann dieser Terminplan im Laufe des Verfahrens abgeändert werden, zum Beispiel wenn es sich als notwendig erweist, mehr Tests als ursprünglich angedacht durchzuführen.

Bedarfsgerecht und entsprechend der Stellungnahme des Sachverständigen kann ein weiterer Verfahrensbeteiligter im Laufe des Verfahrens hinzugezogen werden.

Die Teilnahme dieser zusätzlichen Partei wird im Rahmen eines richterlichen Beschlusses verordnet werden.

Aufgrund des Verfahrensgrundsatzes des rechtlichen Gehörs aller Parteien ist der Bericht des Sachverständigen ausschließlich und automatisch gegenüber den teilnehmenden Parteien wirksam. Somit kann dieser Bericht nur gegenüber einer Gesellschaft/Person, die an dem Beweisverfahren teilgenommen hat, als Beweismittel geltend gemacht werden und nicht gegenüber anderen.

Die Aufgabe des Sachverständigen kann während des Sachverständigengutachtens je nach seinen Feststellungen abgeändert werden. Der Richter, der das selbständige Beweisverfahren angeordnet hat, wird – gemäß der Stellungnahme des Sachverständigen – dessen Aufgabe ergänzen und notfalls einen zusätzlichen Sachverständigen mit besonderen Fachkenntnissen (sapiteur) ernennen.

Der Sachverständige ist im Rahmen der Ausübung seiner Tätigkeit fast ausnahmslos relativ eigenständig.

Bericht des Sachverständigen im VerfahrenDer Ablauf seiner Tätigkeit findet grundsätzlich unter der Kontrolle des Richters statt, wobei diese Kontrolle weniger streng ist als in Deutschland. Allerdings kann sich die richterlich Kontrolle als nützlich erweisen, wenn eine Partei den belegbaren Verdacht hat, dass die Verfahrensregeln nicht genau eingehalten werden.

Genauso wie der deutsche Richter soll der französische Richter die Dauer des Sachverständigengutachtens sowie die Frist für die Erstattung des Berichts festlegen.

Der endgültige Bericht des Sachverständigen wird dem Richter sowie allen Parteien offiziell vorgelegt. Anhand dieses Berichts kann jeder Beteiligte am nunmehr abgeschlossenen selbständigen Beweissicherungsverfahren Klage erheben und dieses Beweismittel gegen die anderen Beteiligten verwenden.

Erst in diesem Streitverfahren werden die Beklagten mit der Rechtsgrundlage der Klage konfrontiert.

Selbständige Beweisverfahren sind in den meisten Fällen komplex und erfordern zwingend die Beteiligung der Parteien, unter anderem der deutschen Unternehmen sowie ihrer (am besten deutsch-französischen) Rechtsanwälte, denn die Folgen eines abgeschlossenen Beweisverfahrens können sich manchmal als finanziell kritisch erweisen.

Françoise Berton, französische Rechtsanwältin

Alle Urheberrechte vorbehalten

Bilder: vege, Robert Kneschke, contrastwerkstatt Corgarashu, Minerva studio, Mickyso

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