Entwicklung des Begriffs der Selbständigkeit der juristischen Personen im Konzern

11.06.19
gesellschaftsinteresse unternehmensgruppe
Entwicklung des Begriffs der Selbständigkeit der juristischen Personen im Konzern
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Die Logik der Unternehmensgruppen ist manchmal unvereinbar mit dem Begriff der Selbständigkeit der juristischen Personen

Oft betrachten wir die Unternehmensgruppe als eine „Familie“, deren Mitglieder nicht wirklich selbständig sind, da sie ein gemeinsames Ziel verfolgen. Diese wirtschaftliche Betrachtung kollidiert in den meisten Fällen mit dem Rechtsgrundsatz des Gesellschaftsrecht in Bezug auf die Selbständigkeit der juristischen Person. Dieser Grundsatz besagt, dass eine Gesellschaft eine juristische Person ist, die sowohl von den natürlichen oder juristischen Personen, die das Stammkapital halten, als auch von den geschäftsführenden Personen getrennt ist. Die Gesellschaft schließt Verträge ab, kauft oder veräußert Güter, stellt Arbeitnehmer ein oder kündigt ihnen, leitet rechtliche Schritte ein, ist für in ihrem Namen eingegangene Schulden verantwortlich. Dieser Begriff der Selbständigkeit der Gesellschaft steht somit oftmals im Gegensatz zu der Logik von Unternehmensgruppen.

Die Richter des frz. Kassationshofs haben vor Kurzem in einem Urteil eine sehr interessante Möglichkeit im Bereich des französischen Konzernrechts eröffnet, und zwar in einem Rechtsstreit bezüglich eines Insolvenzverfahrens.

Muss die gesamte finanzielle Lage der Gruppe berücksichtigt werden, um über die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens zu entscheiden?

Die Kammer für Handelssachen des frz. Kassationshofs hat sich in 5 neuen Urteilen vom 19.12.2018 mit dem Prinzip der Selbständigkeit der juristischen Person im Insolvenzrecht auseinander gesetzt. Die Anmeldung der Insolvenz löst in der Tat oftmals die Frage der Selbständigkeit der Gesellschaft gegenüber ihrem Konzern aus.

Der Sachverhalt war folgender: Eine Unternehmensgruppe in der Immobilienbranche, bestehend aus einer Muttergesellschaft in Form einer frz. Einmann-GmbH (entreprise unipersonnelle à responsabilité limitée, EURL) und anderen Gesellschaften, die alle die Gesellschaftsform einer bürgerlich-rechtlichen Immobilien-Gesellschaft (sociétés civiles immobilières, SCI) besitzen, hat für alle Gesellschaften Insolvenz angemeldet. Jede dieser Gesellschaften hat die Eröffnung eines Sanierungsverfahrens beantragt, mit dem Ziel, dass die Muttergesellschaft ihre Tätigkeit fortführen kann. Das Handelsgericht hat jedoch nur ein Sanierungsverfahren für die Muttergesellschaft und nicht für die Tochtergesellschaften eröffnet. Für die Tochtergesellschaften wurde sofort die Abwicklung angeordnet.

Die Tochtergesellschaften haben die Eröffnung der Abwicklungsverfahren gegen sie unverzüglich bestritten, indem sie argumentieren dass „wenn mehrere Gesellschaften der gleichen Unternehmensgruppe Gegenstand von zeitgleichen Sanierungsverfahren sind, die Chancen zur Sanierung für jede dieser Gesellschaften bewertet werden müssen, indem nicht nur die eigenen Fähigkeiten, sondern auch die Chancen zur Sanierung der Unternehmensgruppe in ihrer Gesamtheit berücksichtigt werden„. Die Richter mussten also in diesem speziellen Zusammenhang zum Begriff der Selbständigkeit der Gesellschaften in einer Unternehmensgruppe Stellung beziehen. Das Berufungsgericht hat sich für eine sehr klassische Auffassung im französischen Gesellschaftsrecht entschieden, indem es den Grundsatz der Selbständigkeit der juristischen Person bekräftigte und daraus ableitete, dass für jedes Verfahren die Fähigkeit zur Sanierung in Bezug auf die Unternehmensgruppe doch für jede einzelne Gesellschaft bewertet werden muss.

Erster Schritt zu einer willkommenen Lockerung des Begriffs der Selbständigkeit der juristischen Person

Die Kammer für Handelssachen des frz. Kassationshofs wählte einen wesentlich flexibleren Ansatz. In seinem Urteil erläutert der Kassationshof, dass das Berufungsgericht die Situation der Unternehmensgruppe hätte berücksichtigen müssen, um eine Lösung für die Tochtergesellschaft zu erarbeiten. In einer innovativen Urteilsbegründung nimmt der Kassationshof einen gegenteiligen Standpunkt zum Berufungsgericht ein und erläutert, dass die Richter bei den zur Sanierung vorgeschlagenen Lösungen „in einem Gesamtansatz die Schlüssigkeit des Projekts in Bezug auf die für die anderen Gesellschaften der Unternehmensgruppe geplanten Lösungen berücksichtigen können„. Die Richter mussten allerdings dabei die strengen Voraussetzungen zur Eröffnung des Insolvenzverfahrens berücksichtigen und feststellen, dass die Chancen zur Sanierung aller Tochtergesellschaften nicht gegeben waren. Die angekündigte Lockerung brachte den Gesellschaften, welche dieses Rechtsverfahren angestoßen hatten, also keinen konkreten Vorteil.

Im Urteil vom 19.12.2018 ist bemerkenswert, dass die wirtschaftliche Realität Vorrang vor der rechtlichen Wirklichkeit hat. Für den Kassationshof ist dies eine Premiere. Das Gericht bestätigt, dass der Grundsatz der Selbständigkeit der juristischen Person vorschreibt, die Voraussetzungen zur Eröffnung eines Insolvenzverfahrens gegen jede Gesellschaft der Unternehmensgruppe einzeln zu bewerten. Es ist dem Gericht dabei nicht untersagt, bei der Prüfung der für jede Gesellschaft vorgeschlagenen Lösung im Rahmen eines Gesamtansatzes die Schlüssigkeit des Projekts im Hinblick auf die für die anderen Gesellschaften der Gruppe geplanten Lösungen zu berücksichtigen.

Die Neuerung in diesem Urteil besteht in der Harmonisierung der gewählten Lösungen für die Mitglieder der Unternehmensgruppe, wobei die Eigenständigkeit ihrer juristischen Person bei der Eröffnung des Insolvenzverfahrens bewahrt wird. In der Rechtsprechung legt dieses Urteil den Grundstein für Erfassung der Gruppe im Insolvenzrecht.

Françoise Berton, französische Rechtsanwältin

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Bild: Syda Productions

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