Unwiderlegbare Vermutung eines versteckten Mangels bei gewerblichem Verkäufer
Veröffentlicht am 29.08.23

Es wird immer davon ausgegangen, dass der versteckte Mangel einer von einem gewerblichen Verkäufer verkauften Ware ihm bekannt ist, ohne dass er das Gegenteil beweisen kann, um den rechtlichen Folgen zu entgehen. Diese Regel der französischen Rechtsprechung zum Kaufrecht, die seit über 50 Jahren gilt, wurde bisher nie in Frage gestellt. Aber ist eine solche Vermutung mit der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) vereinbar? Hier ist die Antwort des französischen Kassationsgerichtshofs in seinem Urteil vom 5. Juli 2023.
Versteckter Mangel und Vermutung der Kenntnis des Verkäufers
In dem Rechtsstreit, der Gegenstand des Urteils war, hatte ein Käufer am 19. Mai 2015 bei einem Landmaschinen-Verkäufer einen Traktor mit Anhänger (Holzhäcksler) bestellt. Kurz darauf war der Käufer des Traktors der Ansicht, dass der Motor des Traktors mit einem versteckten Mangel behaftet war und verklagte den Verkäufer auf gerichtliche Rückabwikclung des Kaufvertrags.
Vor dem Berufungsgericht wurde der Verkäufer neben der Rückerstattung des Kaufpreises und der durch den Verkauf verursachten Kosten zu einem Schadensersatz verurteilt, der insbesondere den Kosten für die Anmietung eines Ersatztraktors entsprach.
Die Tatsachen-Richter wandten die unwiderlegbare Vermutung an, dass der gewerbliche Verkäufer den Mangel kennt, und waren daher der Ansicht, dass der Verkäufer, ohne dass der Käufer dies beweisen musste, Kenntnis von dem versteckten Mangel hatte, der den Motor des Traktors betraf und verurteilten ihn somit dazu, alle dem Käufer entstandenen Schäden zu ersetzen. Der Verkäufer legte gegen das Urteil des Berufungsgerichts Revision ein, um diese sehr alte französische Vermutungsregel in Frage zu stellen.
Unwiderlegbare Vermutung nicht mit der Europäischen Menschenrechtskonvention vereinbar?
Der Verkäufer ist der Ansicht, dass die unwiderlegbare Vermutung der Kenntnis von Mängeln, die auf dem gewerblichen Verkäufer lastet, gegen Artikel 6§1 der EMRK verstoßt. Die EMRK ist ja für das nationale französische Recht bindend, wenn sie in einem Rechtsstreit erfolgreich zum Einsatz kommt. Es ist anzumerken, dass immer mehr französische Gesetze und Rechtsprechungen erfolgreich auf der Grundlage dieses internationalen Übereinkommens mit seinen sehr weit gefassten Grundsätzen in Frage gestellt wurden.
Artikel 6§1 der EMRK garantiert das Recht auf ein faires Verfahren. Der Verkäufer war daher der Ansicht, dass dieses Recht durch die nationale Rechtsvorschrift über die unwiderlegbare Vermutung, die das Beweisrecht einer Partei unverhältnismäßig beeinträchtigt, verletzt wurde. Konkret bedeutet dies, dass der gewerbliche Verkäufer zu keinem Zeitpunkt die Möglichkeit hat, nachzuweisen, dass er den Mangel der verkauften Sache nicht kannte, und somit den Gegenbeweis zur Vermutung zu erbringen. Der Prozess sei daher unfair und der Ausgang im Voraus klar. Diese Vermutung sei umso unverhältnismäßiger, als sie auch zugunsten eines gewerblichen Käufers gelten soll.
Keine Verletzung des Grundsatzes eines fairen Verfahrens durch die Vermutung
Das Argument überzeugte den Kassationshof nicht, der die Berufung in diesem Punkt zurückwies. Trotzdem mussten sich die Richter in ihrem Urteil vom 5. Juli 2023 angesichts der Bedeutung des Grundsatzes des fairen Verfahrens Zeit nehmen, um ihre Entscheidung zu erläutern. Die Richter erinnerten zunächst daran, dass nur der Verkäufer, der die Mängel der Sache kennt, zu Schadensersatz verpflichtet werden kann und dass nach ständiger Rechtsprechung eine unwiderlegbare Vermutung der Kenntnis der Mängel der Sache auf dem professionellen Verkäufer lastet.
Der unwiderlegbare Charakter der Vermutung wird von den Richtern wie folgt begründet:
Sie zwingt den gewerblichen Verkäufer, der über die Fähigkeiten verfügt, die Eigenschaften und Mängel der Sache zu beurteilen, dazu, die Kaufware vor dem Verkauf sorgfältig zu prüfen. Damit erfüllt er auch und vor allem das legitime Ziel des Schutzes des Käufers, der nicht über die gleichen Fähigkeiten verfügt.
Es erfüllt somit die beiden Voraussetzungen, die notwendig sind, um als mit der EMRK vereinbar erklärt zu werden:
- Er ist notwendig, um den Käufer zu schützen ;
- Er beeinträchtigt das Recht auf ein faires Verfahren nicht in unverhältnismäßiger Weise.
Der Kassationsgerichtshof stimmt daher den Berufungsrichtern zu, dass sie den Verkäufer neben der Rückerstattung des Kaufpreises auch zu Schadensersatz verurteilten.
Es ist anzumerken, dass die französischen Kassationsrichter es vermeiden, sich zum Fall des gewerblichen Käufers zu äußern, ebenso wie sie nicht näher darauf eingehen, inwiefern der Eingriff in das Recht auf ein faires Verfahren nicht unverhältnismäßig ist. Diese Punkte hätten wahrscheinlich mehr Erklärungen verdient. Es ist zu hoffen, dass sie in einem künftigen Urteil zu derselben Rechtsnorm ausführlicher erläutert werden.
Unser Rat: Gewerbliche Verkäufer sollten stets darauf achten, dass sie die von ihnen gekauften Waren vor dem Weiterverkauf in Frankreich gründlich auf das Bestehen von Mängeln überprüfen.
Françoise Berton, französische Rechtsanwältin
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