Anerkennung der Gewerkschaftseigenschaft: Nur bei Mächtigkeit
05.05.20

Wann darf eine Gewerkschaft Tarifverträge verhandeln?
Ob eine Arbeitnehmervereinigung als tariffähige Gewerkschaft angesehen wird (d.h. ob sie rechtswirksam Tarifverträge schließen kann), kann davon abhängig gemacht werden, ob sie über eine gewisse Durchsetzungsfähigkeit gegenüber dem Arbeitgeber verfügt. In seinem Urteil vom 13. September 2019 entschied das deutsche Bundesverfassungsgericht, dass dies mit dem Grundrecht der Koalitionsfreiheit vereinbar ist.
Eine Arbeitnehmervereinigung im Versicherungswesen begehrte die Anerkennung als Gewerkschaft. Eine konkurrierende Koalition stellte einen Antrag auf Überprüfung ihrer Tariffähigkeit bzw. Repräsentativität als Gewerkschaft. Das Landesarbeitsgericht entschied, dass es sich bei der Beschwerdeführerin nicht um eine tariffähige Gewerkschaft handele. Die Arbeitnehmervereinigung weise nicht die erforderliche Durchsetzungsfähigkeit auf. Diese sei im Einzelfall zu ermitteln und richte sich in erster Linie nach deren vergangener Teilnahme am Tarifgeschehen und nach der Anzahl ihrer Mitglieder.
Das Landesarbeitsgericht wurde vom Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung bestätigt. Laut dem Bundesverfassungsgericht ist es mit dem Grundrecht der Koalitionsfreiheit vereinbar, nur solche Vereinigungen an der Tarifautonomie teilhaben zu lassen, die eine gewisse Durchsetzungskraft gegenüber der Gegenseite haben, um deren Arbeitsleben durch Tarifverträge sinnvoll zu gestalten. Das Allgemeininteresse an einer funktionierenden Tarifautonomie rechtfertigt die mit dieser Voraussetzung verbundene Einschränkung der Koalitionsfreiheit. Begründet wird dies damit, dass nicht jede Splittervereinigung Tarifverträge abschließen können soll, auch wenn dies bedeutet, dass durchsetzungsschwache Gewerkschaften aus dem Tarifgeschehen verdrängt werden. Gewerkschaften sollen die Interessen ihrer Mitglieder gegenüber der Arbeitgeberseite durchsetzen und deshalb nur am Tarifgeschehen mitwirken, wenn sie eine Verhandlungsmacht besitzen, sodass sie vom sozialen Gegenspieler auch wahr und ernst genommen werden.
Dass das Landesgericht bei der Beurteilung der Durchsetzungsfähigkeit weitgehend auf die Mitgliederanzahl abgestellt hat, sei verfassungsrechtlich unbedenklich. Denn je größer die Vereinigung, desto mehr Verhandlungsstärke und finanzielle Ausstattung bringt sie mit, um Druck auf die Gegenseite aufzubauen.
Wann wird eine Arbeitnehmervereinigung als Gewerkschaft anerkannt?
Das deutsche Grundgesetz garantiert in seinem Artikel 9 Absatz 3 das Recht für jedermann und für alle Berufe, Vereinigungen zu bilden, die die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen wahren und fördern. Grundsätzlich sind alle Einschränkungen dieses Rechts rechtswidrig und können nur in Einzelfällen gerechtfertigt sein. Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden wird daher vom Grundgesetz eine wichtige Rolle eingeräumt.
Wann eine Arbeitnehmervereinigung als eine Gewerkschaft anerkannt wird, ist weder im Grundgesetz noch im Tarifvertragsgesetz ausdrücklich geregelt. Solange der Gesetzgeber darauf verzichtet, liegt es bei den Gerichten die Voraussetzungen für die Tariffähigkeit näher zu beschreiben. Die arbeitsgerichtliche Rechtsprechung stellt daher die folgenden Mindestanforderungen:
- Soziale Mächtigkeit: Durchsetzungsfähigkeit (hinreichende Mitgliederanzahl, Anzahl bereits abgeschlossener Tarifverträge)
- Demokratische Organisation: eine den demokratischen Grundsätzen entsprechende innere Ordnung der Vereinigung und damit ihrer Willensbildung
- Tarifwilligkeit: keine satzungsmäßige Beschränkung der Verhandlungs- und Abschlussbereitschaft von z.B. Betriebsvereinbarungen (z.B. durch Ausschluss von besonders heiklen Sachbereichen)
Zu beachten ist, dass diese objektiven Kriterien stets auf die Umstände des Einzelfalls angewandt werden müssen.
Für neu gegründete Arbeitnehmerkoalitionen ist es also nicht leicht, sich als tariffähige Gewerkschaft zu beweisen. Wie im oben beschriebenen Fall kommt es oft zu einer von anderen Gewerkschaften ausgehenden Überprüfung ihrer Tariffähigkeit.
Gewerkschaftseigenschaft im französischen Recht
Wer in Frankreich eine Gewerkschaft gründen will, ist wie in Deutschland frei, dies zu tun. Das französische Arbeitsgesetz (Art. L 2131-1, L 2131-2 des frz. Arbeitsgesetzbuches) schreibt jedoch vor, dass eine Gewerkschaft nur zur Verteidigung der beruflichen, materiellen und moralischen Interessen zwischen Personen, die den gleichen Beruf, ähnliche oder verwandte Berufe ausüben gegründet werden kann.
Das Statut mit den Namen der Verantwortlichen für die Verwaltung und Leitung der Gewerkschaft ist beim Rathaus einzureichen (Art. L 2131-3 des frz. Arbeitsgesetzbuches). Der Bürgermeister leitet dies dem Staatsanwalt weiter, der das Statut auf folgende Punkte überprüft:
- keine der öffentlichen Ordnung zuwiderlaufenden Ziele
- keine den guten Sitten widersprechenden Ziele
- die Verantwortlichen erfüllen die vorgeschriebenen Voraussetzungen
Françoise Berton, französische Rechtsanwältin
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