Gefälligkeitsattest durch den Betriebsarzt
07.08.18

Hatte der Betriebsarzt zu viel Verständnis für den Arbeitnehmer?
In einem durch den französischen Staatsrat (Conseil d’Etat) am 06.06.2018 ergangenen Urteil wird die Frage der Bestreitung eines fragwürdigen Attests durch einen Betriebsarzt beantwortet.
Der französische Arbeitnehmer eines Dienstleisters für Kernkraftwerkswartung wird für einen Einsatz zu einem Kernkraftwerk, das von Electricité de France (EDF) betrieben wird, geschickt. Der Arbeitnehmer sucht den Betriebsarzt des EDF-Standortes auf, um sich zu beschweren. Er gibt an, insbesondere unzumutbare Arbeitsbedingungen bei einem vorherigen Einsatz in einem anderen Kernkraftwerk von EDF erlebt zu haben. Der Betriebsarzt von EDF akzeptiert daraufhin, dem Arbeitnehmer ein Attest zu seinen Gunsten auszustellen. Das Attest enthält insbesondere die Angabe, dass eine „schädliche Verkettung von misshandelnden Praktiken“ von Seiten des Arbeitgebers Orys zu einer Verschlechterung des Gesundheitszustands des Arbeitnehmers geführt hätte.
Dieses Attest wurde anschließend vom Arbeitnehmer beim Arbeitsgericht im Rahmen einer Streitigkeit mit seinem Arbeitgeber eingereicht.
Da sie sich vom negativen Inhalt des Attests benachteiligt fühlte, legte die Gesellschaft Orys beim Disziplinarausschuss der französischen Ärztekammer Beschwerde gegen den Arzt ein, da dieser seine berufsethischen Verpflichtungen nicht beachtet hätte.
Der Betriebsarzt wird von der Disziplinarkammer der ersten Instanz verwarnt und seine vor der nationalen Disziplinarkammer der Ärzte eingereichte Berufung wird ebenfalls abgewiesen. Er wendet sich an den Staatsrat, um sowohl die Klage des Arbeitgebers vor der Ärztekammer als auch die Disziplinarmaßnahme zu bestreiten.
Kann der Arbeitgeber vor der Ärztekammer gegen den Betriebsarzt klagen?
Bei dieser Frage stützt sich der Staatsrat auf ein im letzten Jahr ergangenes Urteil vom 11.10.2017, um zu antworten, dass der französische Betriebsarzt weiterhin ein Arzt ist und somit dem berufsethischen Kodex der Ärzte unterliegt. Laut den anwendbaren Bestimmungen ist es jeder unmittelbar und sicher durch ein Attest benachteiligten Person möglich, vor der Ärztekammer eine Disziplinarklage einzureichen. Dementsprechend hatte der Arbeitgeber das Recht, vor der Ärztekammer Klage einzureichen, soweit sein Schaden festgestellt worden ist. Im vorliegenden Fall hatte das ärztliche Attest die Richter des Arbeitsgerichts negativ beeinflusst.
Der Betriebsarzt stellt das Attest auf einen objektiven und nachprüfbaren Sachverhalt aus
Die zweite Frage, die sich stellte, war, ob der Arzt einen Fehler begangen hatte, indem er sich zum Gesundheitszustand des Arbeitnehmers äußerte.
Tatsächlich hatte sich der Betriebsarzt ausschließlich auf die Aussagen des Arbeitnehmers gestützt, um das Attest auszustellen, und nicht nachgeprüft, was er schrieb. Betriebsärzte haben jedoch die Möglichkeit, Überprüfungen vorzunehmen. Sie verfügen nämlich über einen freien Zugang zum Arbeitsplatz, um die Arbeitsbedingungen hinsichtlich der Ausstellung eines Attests zu prüfen. Im vorliegenden Fall war es dem Arzt jedoch schlicht unmöglich, die Aussagen des Arbeitnehmers des Dienstleisters zu überprüfen, da seine Beschwerde ein anderes Kernkraftwerk als das, für welches der Betriebsarzt zuständig war, betraf. Die Richter konnten ohne Weiteres aus dem Sachverhalt schließen, dass der Arzt nachlässig gehandelt hatte.
Sanktion für den Betriebsarzt bei einem Gefälligkeitsattest
Im vorliegenden Fall weist der französische Staatsrat die Klage des Betriebsarztes zurück und wirft ihm vor, ein ärztliches Attest ausgestellt zu haben, ohne selbst nachgeprüft zu haben, was er behauptet.
Die Ärztekammer kann also eine Disziplinarmaßnahme gegenüber einem Betriebsarzt, der ein Attest auf der alleinigen Grundlage von Tatsachen, die er nicht selbst festgestellt hat, ausstellte, aussprechen. Er wird somit für die Ausstellung eines voreingenommenen Berichts oder eines Gefälligkeitsattests gemäß Artikel R 4127-28 des französischen Gesetzes über das öffentliche Gesundheitswesen (Code de la santé publique) sanktioniert.
Die Disziplinarmaßnahmen reichen von einem Tadel oder einer Verwarnung (wie im vorliegenden Fall) bis hin zu schwereren Strafen wie einem Berufsverbot für eine bestimmte Dauer oder dem Ausschluss aus der Ärztekammer (Art. L 4124-6 des französischen Gesetzes über das öffentliche Gesundheitswesen).
Dieses Urteil ist wichtig in der Praxis des französischen Arbeitsrechts, indem es daran erinnert, dass ein Betriebsarzt (und ein niedergelassener Arzt?) vor allem ein praktizierender Arzt ist und dem Standesrecht unterliegt. Auch wenn sein Auftrag darin besteht, die Interessen des Arbeitnehmers in Bezug auf die Gesundheit zu verteidigen, kann er sich nicht ganz subjektiv zum Fürsprecher des Arbeitnehmers ernennen. Er muss selbst wissen, wann er die rote Linie überschreitet, auf die der Staatsrat in seinem Urteil hinweist.
Françoise Berton, französische Rechtsanwältin
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