Reicht die technische Aufzeichnung für einen Anspruch auf Vergütung der Überstunden?
23.08.22

Das Thema der Arbeitszeit im deutschen Recht ist kein einfaches Thema und bringt viele gerichtlichen Auseinandersetzungen mit sich.
Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat in seinem Urteil vom 4. Mai 2022 (5 AZR 359/21) entschieden, dass der Arbeitnehmer beweisen muss, dass seine geleisteten Überstunden auf Veranlassung des Arbeitgebers erfolgt sind. Nur wenn er diesen Beweis erbracht hat, kann er die Vergütung der Überstunden verlangen.
Geleistete Überstunden müssen durch den Arbeitnehmer bewiesen werden
Ein Arbeitnehmer war als Auslieferungsfahrer bei einem Einzelhandelsunternehmen beschäftigt. Mittels technischer Zeitaufzeichnung erfasste der Arbeitnehmer seine Arbeitszeiten. Hierbei wurden lediglich Beginn und Ende seiner Arbeitszeit aufgezeichnet. Die Aufzeichnung ergab, dass der Arbeitnehmer keine Pausen genommen hatte. Nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses ergab die Zeitauslese einen positiven Saldo von 348 Stunden. Der Arbeitnehmer klagte auf Vergütung des Saldos als Überstundenabgeltung. Als Begründung seiner Klage führte er an, dass die aufgezeichnete Zeit seiner reinen Arbeitszeit entspräche. Pausen zu nehmen wäre ihm nicht möglich gewesen, da er sonst nicht alle Auslieferungsaufträge geschafft hätte.
Der Arbeitnehmer klagte auf Vergütung der Überstunden vor dem Arbeitsgericht Emden (Teilurteil vom 9. November 2020, 2 Ca 399/18). Das Arbeitsgericht gab der Klage des Arbeitnehmers statt. Der Arbeitgeber hätte seinerseits nach deutschem Arbeitsrecht darlegen müssen, dass die Überstunden nicht notwendig gewesen seien und dass der Arbeitnehmer die Pausen tatsächlich in Anspruch genommen habe. Da der Arbeitgeber diesen Beweis nicht erbracht hatte, sei der Klage des Arbeitgebers stattzugeben. Das Arbeitsgericht stützte seine Entscheidung auf das Urteil vom Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 14. Mai 2019 (C-55/18 – [CCOO]). In diesem Urteil entschied der EuGH, dass die Mitgliedstaaten ihre Arbeitgeber verpflichten müssen, ein Zeiterfassungssystem für Arbeitszeiten einzuführen. Nach Ansicht des Arbeitsgerichts Emden modifiziert dieses System auch die Darlegungslast bei der Vergütung von Überstunden, so dass der Arbeitgeber derjenige ist, der darlegen und beweisen muss, dass keine notwendigen Überstunden geleistet wurden. Aus Sicht des Arbeitsgerichts reicht es, dass der Arbeitgeber über die technische Zeiterfassung die Möglichkeit hatte, von den Überstunden Kenntnis zu nehmen. Die Überstunden seien dadurch automatisch notwendig gewesen und ihre Vergütung damit einforderbar.
Die reine technische Aufzeichnung der Überstunden reicht nicht aus
Der Arbeitgeber legte Berufung vor dem Landesarbeitsgericht Niedersachsen (LAG) ein und hatte Erfolg. Das LAG wies in seinem Urteil vom 6. Mai 2021 (5 Sa 1292/20) die Klage des Arbeitnehmers ab. Es erklärte, dass die europarechtlich begründete Pflicht zur Messung der täglichen Arbeitszeit keine Auswirkung auf die Grundsätze über die Darlegungs- und Beweislast bezüglich der Vergütung von Überstunden hat. Die Darlegungs- und Beweislast obliegt weiterhin dem Arbeitnehmer. Die europäische Regelung verfolgt lediglich den Zweck, Gesundheit und Sicherheit der Arbeitnehmer zu schützen. Nach Auffassung des LAG hätte der Arbeitnehmer konkret beweisen müssen, dass er die Auslieferungszeiten nur erledigen konnte, indem er keine Pausen einlegte. Dass es also konkret erforderlich war, ohne Pausen durchzuarbeiten. Die pauschale Behauptung, dass Pausenzeiten nicht möglich gewesen seien, reicht nicht.
Um die Notwendigkeit von Überstunden zu beweisen, reicht keine pauschale Behauptung
Der Arbeitnehmer legte daraufhin Revision vor dem Bundesarbeitsgericht (BAG) ein. Das BAG bestätigte jedoch das Urteil des LAG und wies die Klage ab.
Durch sein Urteil stellt das BAG klar, dass die Arbeitszeitrichtlinie 2003/88/EG sowie das Urteil vom EuGH vom 14. Mai 2019 (C-55/18 – [CCOO]) zwar die ArbeitgeberInnen verpflichten, ein System zur Zeiterfassung bereit zu stellen. Dies heißt jedoch nicht, dass der Beweis bezüglich geleisteter Überstunden damit nicht mehr durch den Arbeitnehmer erbracht werden muss.
Zusammenfassender Praxishinweis: Um die Vergütung von geleisteten Überstunden zu erhalten, muss der Arbeitnehmer darlegen, dass
- der Überstunden geleistet hat, seine Arbeitszeit also die vorgesehene Arbeitszeit überschritten hat, oder der Arbeitgeber ihn dazu aufgefordert hat, sich für Überstunden bereit zu halten.
- die von ihm geleisteten Überstunden durch den Arbeitgeber ausdrücklich oder konkludent angeordnet, geduldet oder nachträglich gebilligt wurden.
Françoise Berton, französische Rechtsanwältin
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