Europäische Erbschaft und Gericht des gewöhnlichen Aufenthaltsorts
22.02.23

Am 04.07.2012 hat die Europäische Union die Verordnung Nr. 650/2012, häufig abgekürzt als „Europäische Erbrechtsverordnung“, erlassen. Diese gilt seit dem 17.08.2015 innerhalb der Mitgliedstaaten und soll die geltenden Vorschriften bei grenzüberschreitenden Erbschaften harmonisieren, indem insbesondere Artikel 4 die Grundsatzregel einführt, laut der das Gericht, das in einem Streitfall angerufen werden kann, das Gericht des Landes ist, in dem der Erblasser zum Zeitpunkt seines Todes seinen gewöhnlichen Aufenthaltsort hatte. Dennoch kommt es vor, dass der Erblasser seinen gewöhnlichen Aufenthaltsort in keinem Mitgliedstaat hatte, sodass subsidiäre Zuständigkeiten angewendet werden müssen.
Ein Urteil vom 22.09.2022, das der frz. BGH, der Kassationshof erlassen hat, hat die Regeln der subsidiären Zuständigkeiten im Fall eines Nachlasses eines Franzosen, der zwar Vermögen in Frankreich hatte, nicht jedoch seinen gewöhnlichen Aufenthaltsort, klargestellt.
Vorübergehender Aufenthaltsort des Erblassers in Frankreich
Das Urteil vom 22.09.2022 hat einen Streitfall über die Zuständigkeit der französischen Gerichte beendet, der seit mehreren Jahren bestand und Gegenstand eines Eingreifens des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) war.
Im vorliegenden Fall war der Erblasser am 03.09.2015 in Frankreich verstorben, hielt sich jedoch seit 1981 im Vereinigten Königreich auf, wo er 1996 eine Britin geheiratet hatte. Aus einer vorhergehenden Gemeinschaft waren drei Kinder hervorgegangen. Da er krank geworden war, ist er im August 2012 nach Frankreich zurückgekehrt, um nahe eines der Kinder zu leben. Nach seinem Tod haben seine Kinder ihre britische Schwiegermutter vor den französischen Gerichten verklagt, um die Ernennung eines Nachlassverwalters für die Gesamtheit des Nachlasses ihres Vaters zu erreichen, indem sie sich auf die Tatsache beriefen, dass Letzterer seinen gewöhnlichen Aufenthaltsort zum Zeitpunkt seines Todes in Frankreich hatte. Am 12.12.2017 hat der Vorsitzende des ehemaligen Landgerichts von Nanterre dem Antrag stattgegeben, jedoch hat das Berufungsgericht von Versailles diesen Beschluss am 21.02.2019 aufgehoben, da es davon ausging, dass sich der gewöhnliche Aufenthaltsort des Erblassers während seines Todes noch immer im Vereinigten Königreich befand.
Die Kinder haben daraufhin Revision vor dem frz. BGH, dem Kassationshof, eingelegt, indem sie sich zum ersten Mal auf Artikel 10 der Europäischen Erbrechtsverordnung beriefen, der unter anderem vorsieht, dass, wenn der Erblasser seinen gewöhnlichen Aufenthaltsort zum Zeitpunkt seines Todes nicht in einem Mitgliedstaat hatte, die Gerichte eines Mitgliedstaats, in dem sich Nachlassvermögen befindet, dennoch für Entscheidungen für den gesamten Nachlass zuständig sind, solange der Erblasser zum Zeitpunkt seines Todes die Staatsangehörigkeit dieses Mitgliedstaats besaß. Mit anderen Worten: Da der Erblasser
- in Frankreich Vermögen besaß und
- französischer Staatsangehörigkeit war,
ermöglichte dieser Artikel 10 den französischen Gerichten die Erklärung ihrer Zuständigkeit. Indem es die subsidiäre Zuständigkeit nicht überprüft hatte, hätte das Berufungsgericht von Versailles laut den Kindern des Erblassers gegen diesen Artikel 10 verstoßen.
Dennoch stellte sich die Frage nach der Begründetheit dieses Vortrags vor dem Gericht. In Zivilsachen urteilen die Richter tatsächlich grundsätzlich nur über die direkt von den Parteien vorgebrachten Argumente, außer ein Text oder die Rechtsprechung besagen, dass dieses oder jenes Rechtsmittel von Amts wegen eingelegt werden soll. Im vorliegenden Fall hatten sich die Kinder des Erblassers weder vor dem Land- noch vor dem Berufungsgericht auf Artikel 10 berufen, sondern nur vor dem frz. BGH – ein Gericht, das nicht über die Tatsachen entscheidet. Um die Revision zu entscheiden, musste der frz. BGH folglich bestimmen, ob das Berufungsgericht von Amts wegen Artikel 10 der Europäischen Erbrechtsverordnung hätte ansprechen sollte, um sich für zuständig zu erklären.
Da es sich um eine Auslegung der europäischen Verordnung handelte, hat der frz. BGH entschieden, das Vorabentscheidungsverfahren zu nutzen, das es ihm ermöglicht, dem EuGH eine Frage zur Auslegung einer bestimmten Bestimmung des EU-Rechts zu stellen. Indem es an den Wortlaut des Streitfalls erinnerte, hat es die Richter von Luxemburg gefragt, ob in diesem Fall die Gerichte des Mitgliedstaats, dessen Staatsangehörigkeit der Erblasser angehörte und in dem er über Vermögen verfügte, von Amts wegen Artikel 10 anwenden und ihre Zuständigkeit erklären sollten.
Der EuGH ist sich treu geblieben und hat in einem am 07.04.2022 erlassenen Urteil von beachtlicher Länge die Frage beantwortet, indem er auf jedes einzelne Detail des Sachverhalts eingegangen ist, um seine Antwort zu rechtfertigen. Es sind insbesondere die folgenden Punkte zu merken:
Erbrechtsverordnung: Subsidiäre Zuständigkeit der Gerichte
- Im Hinblick auf das Ziel einer geordneten Rechtspflege kann die Anwendung von Artikel 10 der Europäischen Erbrechtsverordnung für den EuGH nicht von der Tatsache abhängen, dass sich weder die eine noch die andere Partei des betreffenden Verfahrens auf diesen berufen hat.
- Er erinnert auch daran, dass gemäß Artikel 15 das Gericht eines Mitgliedstaates, das in einem Erbfall angerufen wird, für die es nach dieser Verordnung nicht zuständig ist, sich von Amts wegen für unzuständig erklären muss. Dennoch schreibt dieser Artikel dem angerufenen Gericht vor, die Grundlage seiner Zuständigkeit in Anbetracht der nicht angefochtenen Tatsachen zu bestimmen – eine Grundlage, die sich eventuell von der, die der Antragsteller angeführt hat, unterscheiden kann. Angewendet auf den vorliegenden Fall bedeutet dies, dass das Berufungsgericht von Versailles vor der Erklärung seiner Unzuständigkeit alle Anhaltspunkte, die seine Zuständigkeit hätten begründen können, in Betracht hätte ziehen müssen – einschließlich des von den Parteien nicht vorgebrachten Artikels 10.
Folglich ist der EuGH zu dem Schluss gekommen, dass ein Gericht eines Mitgliedstaates seine Zuständigkeit von Amts wegen aufgrund von Artikel 10 der Europäischen Erbrechtsverordnung erklären muss, wenn es auf Grundlage der allgemeinen Zuständigkeitsregel aus Artikel 4 dieser Verordnung feststellt, dass es aufgrund dieser letzten Bestimmung nicht zuständig ist.
In Anbetracht dieser Antwort des EuGH ist es folglich äußerst logisch, dass der frz. BGH durch sein Urteil vom 22.09.2022 den Beschluss des Berufungsgerichts von Versailles aufgehoben hat: da der Erblasser französischer Staatsangehörigkeit war und Vermögen in Frankreich besaß, musste sich das Berufungsgericht von Amts wegen auf der Grundlage von Artikel 10 der Europäischen Erbrechtsverordnung für zuständig erklären.
Letzter Aufenthaltsort des Erblassers als dauerhafter Aufenthaltsort
Aus praktischer Sicht sollten die Urteile des EuGH und des frz. BGHs die Vorgänge der Erben, die möchten, dass die Gerichte eines (oft ihres) Mitgliedstaates für die Entscheidung über die Gesamtheit eines Nachlasses zuständig sind, umso mehr erleichtern. Denn wo das Kriterium des letzten Aufenthaltsortes des Erblassers manchmal Definitionsprobleme bereitet, sind die Kriterien der Staatsangehörigkeit und des Besitzes von Vermögen in einem Mitgliedstaat recht einfach zu beweisen. Im Rahmen von internationalen Nachlässen ist es nicht selten, dass ein Erblasser eine doppelte Staatsbürgerschaft – davon eine gemeinsam mit seinen Erben – hat und noch Vermögen in seinem Ursprungsland besitzt.
Von nun an könnten Erben versucht sein, immer öfter auf Artikel 10 der Verordnung zurückzugreifen, damit der Nachlass in ihrem Land geregelt wird. In diesem Sinne wird ihnen insbesondere durch die Gerichte selbst geholfen, die achtsam sein und die Kriterien von Artikel 10 überprüfen müssen, bevor sie sich für unzuständig erklären.
Unsere deutsch-französische Anwaltskanzlei begleitet und berät im Erbrecht Personen, die an einem grenzüberschreitenden Nachlass beteiligt sind.
Françoise Berton, französische Rechtsanwältin
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Bild: Gina Sanders