Grenzüberschreitende Umwandlung in der EU: Urteil vom 12.7.2012
17.10.12

Der Europäische Gerichtshof hat am 12.07.2012 ein wichtiges Urteil im Europarecht, insbesondere über die grenzüberschreitende Sitzverlegung von Gesellschaften in der EU (EuGH, 3. Kammer, 12.07.2012, Rechtssache C-378/10, Vale Epitesi) erlassen. Dieses Urteil gibt die Antwort auf eine Vorlagefrage des Obersten Gerichts Ungarns.
Der Präzedenzfall : das Urteil CARTESIO vom 16.12.2008
Im Hinblick auf das Urteil wird hiernach an den Begriff der Sitzverlegung nach Europarecht angeknüpft. Der Begriff umfasst zwei Situationen in der Rechtsprechung des europäischen Gerichtshofs: Die Sitzverlegung mit Beibehaltung der Rechtspersönlichkeit ohne Auswechslung des anwendbaren nationalen Rechts (grenzüberschreitende Sitzverlegung) und die Sitzverlegung mit Auswechslung des anwendbaren nationalen Rechts (grenzüberschreitende Umwandlung). Diese Unterscheidung wurde ausdrücklich im Urteil CARTESIO des europäischen Gerichtshofs festgelegt (EuGH, 16.12.2008, Rechtssache C-210/06). In dieser Angelegenheit stand der erste vorgenannte Fall zur Debatte. Der Gerichtshof hatte entschieden, dass der Herkunftsstaat einer grenzüberschreitenden Sitzverlegung nicht entgegenstehen kann. Der Gerichtshof hatte ferner darauf hingewiesen, dass die zweite Fallkonstellation möglich sein sollte, soweit dies nach dem Recht des Aufnahmemitgliedstaates möglich ist.
Dieser letzte Satz, der nicht eindeutig war, musste näher definiert werden. Dies ist durch das Urteil VALE vom 12.07.2012, das nach einer Vorlagefrage über die folgende Tatsache erlassen worden ist, geschehen.
Neue Entscheidung über die grenzüberschreitende Sitzverlegung
Eine italienische Gesellschaft hatte ihre Löschung im italienischen Handelsregister, in welchem sie eingetragen war, beantragt. Sie hatte darauf hingewiesen, dass sie ihren Sitz nach Ungarn verlegen wollte. Das italienische Handelsregister hat daher die Löschung der Gesellschaft mit dem Vermerk “Löschung und Sitzverlegung“ getätigt. Ein ungarischer Gesellschaftsvertrag wurde unterzeichnet und ein Antrag auf Eintragung mit der Angabe als „Rechtsvorgänger“ der italienischen gelöschten Gesellschaft wurde vor der zuständigen ungarischen Behörde eingereicht. Diese hat den Antrag abgewiesen. Laut der ungarischen Behörden könne eine in Italien gegründete und eingetragene Gesellschaft ihren Sitz nicht nach Ungarn verlegen.
Das Oberste Gericht Ungarns hat zwar anerkannt, dass im heutigen Zustand des ungarischen Gesellschaftsrechts die Umwandlung einer ausländischen Gesellschaft nicht möglich sei, hat sich jedoch die Frage der Vereinbarkeit derartiger Rechtsvorschriften mit der europäischen Niederlassungsfreiheit gestellt und diese dem Europäischen Gerichtshof vorgelegt.
Die grenzüberschreitende Umwandlung im Europarecht
Dieses jüngste Urteil ergänzt die Rechtsprechung über die grenzüberschreitende Sitzverlegung im europäischen Gesellschaftsrecht,in dem es ein Recht auf grenzüberschreitende Umwandlung in der EU anerkennt. Für die europäischen Richter ist die grenzüberschreitende Umwandlung eine Modalität der Niederlassungsfreiheit der Gesellschaften. Erkennt ein Mitgliedstaat die Möglichkeit für eine Gesellschaft an, umgewandelt zu werden, muss dieser Mitgliedstaat einer in einem anderen Mitgliedstaat gegründeten Gesellschaft ebenfalls dieses Recht gewähren. Ein Mitgliedstaat kann nicht systematisch die Umwandlung von in anderen Mitgliedstaaten gegründeten Gesellschaften verweigern, ohne dabei gegen die Niederlassungsfreiheit zu verstoßen. Lediglich der Schutz des Allgemeininteresses, insbesondere der Schutz des Interesses von Gläubigern, von Minderheitsgesellschaftern und von Arbeitnehmern oder der Rechtsmissbrauch können diese Freiheit einschränken.
Bezüglich der anwendbaren Rechtsvorschriften für diese grenzüberschreitenden Umwandlungen finden die nationalen Gesellschaftsrechtssysteme in Ermangelung von europäischen Rechtsvorschriften Anwendung. Allerdings müssen diese nationalen Bestimmungen den europäischen Äquivalenz-und Effektivitätsgrundsatz beachten. Ist der Vermerk des Rechtsvorgängers für eine innerstaatliche Umwandlung möglich, darf der Mitgliedstaat den Vermerk eines ausländischen Rechtsvorgängers für eine grenzüberschreitende Umwandlung nicht verweigern. Außerdem dürfen die nationalen Bestimmungen die Umwandlung nicht unmöglich machen. In diesem Rahmen muss der Aufnahmemitgliedstaat die Unterlagen des Herkunftsmitgliedstaates berücksichtigen können.
Selbst wenn europäische Bestimmungen über die Sitzverlegung und die Umwandlung von Gesellschaften in der EU notwendig wären, verhindert der Mangel an europäischen Rechtsvorschriften nicht die Anerkennung der grenzüberschreitenden Sitzverlegung und Umwandlung durch den europäischen Gerichtshof aufgrund der Niederlassungsfreiheit. Der Gerichtshof hat gezeigt, dass er Hindernissen, die sich gegen den freien Verkehr der Gesellschaften in der EU richten, entgegensteht. Der nächste Schritt könnte die Verabschiedung einer Richtlinie, der das Recht er grenzüberschreitenden Sitzverlegung und Umwandlung näher definieren wird, sein. Das europäische Parlament hat in diesem Sinn am 02.02.2012 eine Entschließung über das Vorhaben einer 14. Gesellschaftsrechtlichen Richtlinie zur grenzüberschreitenden Verlegung von dem Gesellschaftssitz verabschiedet.
Françoise Berton, französische Rechtsanwältin
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