Grobes Verschulden des Handelsvertreters nach Vertragsbeendigung: Neue französische Rechtsprechung und Auswirkungen auf deutsche Unternehmen
Aktualisiert am 30.10.25
Das Wichtigste in Kürze
Rechtsfrage: Kann eine nach Vertragsbeendigung entdeckte faute grave (grobes Verschulden) den französischen Handelsvertreter um seinen Ausgleichsanspruch bringen?
Antwort der französischen Rechtsprechung (2022-2025): NEIN. Seit dem Grundsatzurteil vom November 2022 muss die faute grave zum Zeitpunkt der Kündigung bereits bekannt gewesen sein UND ausdrücklich im Kündigungsschreiben als Kündigungsgrund genannt worden sein.
Praktische Auswirkung für deutsche Unternehmen: Verstärkter Schutz französischer Handelsvertreter und erhöhte Sorgfaltspflicht bei der Formulierung von Kündigungsschreiben.
Anwendbare Rechtsvorschriften:
- Art. L134-12 und L134-13 Code de commerce (französisches Handelsgesetzbuch)
- EU-Richtlinie 86/653/EWG vom 18. Dezember 1986
- Cass. Com., 16. November 2022, Nr. 21-17.423 (Grundsatzurteil)
- Cass. Com., 4. Dezember 2024, Nr. 23-19.820 (Bestätigungsurteil)
Einführung: Ein Streitpunkt mit erheblichen finanziellen Folgen
Die indemnité de rupture (Ausgleichszahlung bei Vertragsbeendigung), auf die ein französischer Handelsvertreter nach Beendigung seines Handelsvertretervertrags Anspruch haben kann, ist regelmäßig Gegenstand erheblicher Auseinandersetzungen. Die Beträge sind oft beträchtlich und können im französischen Handelsvertreterrecht bis zu zwei Jahresprovisionen (Bruttokommissionen) erreichen – weshalb beide Seiten verständlicherweise auf ihrer Position beharren.
Deutsche Unternehmen, die mit französischen Handelsvertretern arbeiten, versuchen manchmal, der Zahlung der indemnité zu entgehen, indem sie ein schwerwiegendes Fehlverhalten des Handelsvertreters geltend machen. Diese Strategie findet ihre Grundlage in Art. L134-13 des frz. Code de commerce:
Das grobe Verschulden schließt den Ausgleichsanspruch aus.
Doch eine heikle Frage stellt sich:
Was gilt im französischen Recht, wenn das Unternehmen das Fehlverhalten des Handelsvertreters erst NACH Vertragsbeendigung entdeckt? Kann es sich dann noch darauf berufen, um die Zahlung zu vermeiden?
In einem wegweisenden Urteil vom 16. November 2022, bestätigt durch ein weiteres Urteil vom 4. Dezember 2024, hat der französische Cour de Cassation (höchstes französisches Zivilgerichtshof) einen Rechtsprechungswandel vollzogen, der die Rechtsposition französischer Handelsvertreter erheblich stärkt.
Inhaltsverzeichnis
Ein Musterfall: Das französische Grundsatzurteil vom 16. November 2022
Der Sachverhalt (Acopal gegen Terdis)
Die dem Urteil zugrunde liegenden Umstande sind aufschlussreich. Seit 2008 übte die Gesellschaft Acopal die Tätigkeit eines französischen agent commercial (Handelsvertreter) für die Gesellschaft Terdis aus. Ihre Beziehung wurde 2013 durch einen förmlichen Vertretervertrag formalisiert.
Am 4. Marz 2016 kündigte die Gesellschaft Acopal den Vertrag – und zwar auf eigene Initiative. Anschließend verklagte Acopal die Gesellschaft Terdis auf Zahlung des Ausgleichsanspruchs sowie des Anspruchs aus der Kündigungsfrist (indemnités de rupture et de préavis), auf die der Handelsvertreter nach Art. L134-12 Code de commerce grundsätzlich Anspruch hat.
Die Position des Auftraggebers Terdis
Die Gesellschaft Terdis widersetzte sich dieser Forderung und berief sich auf ein grobes Veschulden des Handelsvertreters: Verletzung der Wettbewerbsverbotsklausel, die erst NACH Beendigung des Vertrags entdeckt wurde.
Konkret warf Terdis dem Handelsvertreter Acopal vor, während der Dauer des Handelsvertretervertrags eine konkurrierende Tätigkeit ausgeübt zu haben. Diese Wettbewerbstätigkeit war zum Zeitpunkt der Vertragsbeendigung (4. März 2016) nicht bekannt und wurde erst später entdeckt.
Terdis argumentierte, dass diese konkurrierende Tätigkeit eine faute grave darstelle und den Ausgleichsanspruch nach Art. L134-13 Code de commerce ausschließe – auch wenn sie erst nach Vertragsende entdeckt wurde.
Die Entscheidung der Cour de Cassation: Ein Paradigmenwechsel
Die französische Cour de Cassation erteilte dieser Argumentation eine klare Absage und vollzog damit einen Rechtsprechungswandel.
Die neue Regel (seit November 2022):
Ein grobes Verschulden kann den Ausgleichsanspruch nur dann ausschließen, wenn sie zum Zeitpunkt der Vertragsbeendigung bereits bekannt war UND ausdrücklich im Kündigungsschreiben als Kündigungsgrund angegeben wurde.
Die Cour de Cassation begründete ihre Entscheidung wie folgt:
- Kausalitätserfordernis: Es muss ein unmittelbarer Ursachenzusammenhang zwischen dem groben Verschulden und der Vertragsbeendigung bestehen. Ein nachträglich entdecktes Verschulden kann nicht kausal für eine bereits erfolgte Kündigung sein.
- Richtlinienkonforme Auslegung: Art. 18 der EU-Richtlinie 86/653/EWG verlangt, dass das Verschulden des Handelsvertreters der Grund für die Vertragsbeendigung sein muss – nicht bloß ein nachträglich entdeckter Umstand.
- Schutz des Handelsvertreters: Der zwingende Charakter des Ausgleichsanspruchs (ordre public) erfordert eine restriktive Auslegung der Ausnahmetatbestande.
Ergebnis im Fall Acopal/Terdis: Da die Wettbewerbstätigkeit zum Zeitpunkt der Kündigung nicht bekannt war und nicht im Kündigungsschreiben genannt wurde, blieb der Ausgleichsanspruch bestehen – trotz objektiv vorliegender faute grave.
Bestätigung der neuen Rechtsprechung im Dezember 2024
Am 4. Dezember 2024 hat die Cour de Cassation ihre Rechtsprechung von 2022 in einem weiteren Urteil (Nr. 23-19.820) ausdrücklich bestätigt und begründet.
Dieses Urteil macht deutlich, dass die neue Regel keine Ausnahme darstellt, sondern einen gefestigten Rechtsprechungsgrundsatz im französischen Handelsvertreterrecht bildet.
Wichtig für deutsche Unternehmen: Diese Rechtsprechung gilt unmittelbar für alle laufenden und zukünftigen Verfahren, unabhängig vom Datum des Vertragsabschlusses.
Die rechtlichen Grundlagen im französischen Recht
Der Ausgleichsanspruch nach Art. L134-12 Code de commerce
Der französische Ausgleichsanspruch ist eine der zentralen Normen des Handelsvertreterrechts. Er soll dem Handelsvertreter einen angemessenen Ausgleich dafür verschaffen, dass der Auftraggeber auch nach Vertragsende noch erhebliche Vorteile aus dem vom Handelsvertreter aufgebauten Kundenstamm zieht.
Höhe des Ausgleichsanspruchs im französischen Recht:
Nach ständiger französischer Rechtsprechung entspricht der Ausgleichsanspruch in der Regel zwei Jahresprovisionen (Durchschnitt der letzten drei Jahre Tätigkeit).
Wichtiger Unterschied zum deutschen Recht:
In Deutschland betragt der Ausgleichsanspruch nach Paragraph 89b HGB höchstens EINE Jahresprovision (Durchschnitt der letzten fünf Jahre), wobei oftmals die tatsächlich geschuldete Summe geringer ausfällt. Der Ausgleichsanspruch ist somit tendenziell doppelt so hoch wie der deutsche Ausgleichsanspruch!
Ausschluss wegen grobem Verschulden nach Art. L134-13 Code de commerce
Art. L134-13 Code de commerce regelt, dass der Ausgleichsanspruch in bestimmten Fällen ausgeschlossen ist, insbesondere bei grobem Verschulden des Handelsvertreters.
Was ist eine faute grave im französischen Recht?
Das grobe Verschulden ist nach französischer Rechtsprechung (Cass. Com., 29. Juni 2022, Nr. 20-13.228) ein Fehlverhalten, das:
- die gemeinsame Zweckverfolgung des mandat d’intérêt commun (Auftrag von gemeinsamem Interesse) beeinträchtigt;
- die Aufrechterhaltung der Vertragsbeziehung unmöglich macht.
Beispiele für grobes Verschulden nach französischer Rechtsprechung:
- Verstoß gegen das Wettbewerbsverbot;
- Fehlende Sorgfalt, die zu einem erheblichen Umsatzrückgang führt;
- Treuwidriges Verhalten gegenüber dem Auftraggeber;
- Verschweigen von Nebentätigkeiten;
- Wiederholte Pflichtverletzungen, die das Image des Auftraggebers schädigen
Die neue Kausalitätsanforderung (seit 2022)
Das grobe Verschulden kann den Ausgleichsanspruch nur ausschließen, wenn:
- Kenntnis zum Kündigungszeitpunkt: Das Fehlverhalten muss dem Auftraggeber zum Zeitpunkt der Vertragsbeendigung bereits bekannt gewesen sein.
- Ausdrückliche Benennung: Die faute grave muss ausdrücklich im Kündigungsschreiben als Kündigungsgrund genannt worden sein.
- Kausaler Zusammenhang: Die Vertragsbeendigung muss gerade WEGEN dem groben Verschulden erfolgt sein, nicht aus anderen Gründen.
Was bedeutet das für deutsche Unternehmen mit französischen Handelsvertretern?
Erhöhte Sorgfaltspflicht bei der Vertragsbeendigung
Deutsche Unternehmen, die mit französischen Handelsvertretern arbeiten, müssen bei der Beendigung der Verträge besonders sorgfältig vorgehen, wenn sie den Ausgleichsanspruch ausschließen wollen.
Das Kündigungsschreiben ist der kritische Zeitpunkt. Um den Ausgleichsanspruch wirksam auszuschließen, muss das deutsche Unternehmen:
1. Alle schwerwiegenden Pflichtverletzungen identifizieren
- Zum Zeitpunkt der Kündigung ALLE bekannten Verschulden des Handelsvertreters sorgfältig erfassen. Bei Bedarf ein Audit durchführen;
- Jede Pflichtverletzung präzise charakterisieren.
2. Jede Pflichtverletzung rechtlich qualifizieren
- Erläutern, warum jede Pflichtverletzung für sich genommen ein grobes Verschulden darstellt;
- Die Beeinträchtigung des gemeinsamen Auftrags darlegen;
- Begründen, warum die Fortsetzung des Vertrags unmöglich geworden ist.
3. Die Kausalität herstellen
- Das Kündigungsschreiben muss deutlich machen, dass die Kündigung GERADE WEGEN dieses Verhaltens ausgesprochen wird;
- Nicht nur wirtschaftliche Gründe nennen, wenn man sich auf ein grobes Verhalten berufen will.
4. Beweise sichern
- Alle Nachweise für die Pflichtverletzungen dokumentieren;
- Den Zeitpunkt der Entdeckung dieses Verhaltens datieren;
- Die Beweismittel archivieren.
Nachträgliche Berufung ist ausgeschlossen
ACHTUNG: Ein deutsches Unternehmen, das den Vertrag seines französischen Handelsvertreters beendet hat, ohne sich auf ein grobes Verschulden zu berufen, kann sich später NICHT MEHR darauf berufen, selbst wenn diese nachweislich vorlag und während der Vertragslaufzeit begangen wurde.
Dieser Ausschluss des Ausgleichsanspruchs gilt auch für Pflichtverletzungen, die während der Kündigungsfrist begangen werden.
Fall aus unserer Kanzlei: 200.000 Euro gespart
Eine mittelständische GmbH aus Süddeutschland kam im Mai 2023 zu uns. Das Unternehmen hatte den Verdacht, dass ihr französischer Handelsvertreter parallel für einen Wettbewerber trotz entsprechender Klausel arbeitet. Die jährlichen Provisionen beliefen sich auf 100.000 Euro.
Wir rieten von einer sofortigen Kündigung ab. Ohne Beweise hätte die GmbH einen Ausgleichsanspruch in Höhe von 200.000 Euro zahlen müssen. Stattdessen beauftragten wir einen Detektiv. Nach vier Wochen lagen die Beweise vor.
Wir erstellten ein präzises Kündigungsschreiben auf Französisch. Jede Pflichtverletzung wurde einzeln benannt, datiert und rechtlich qualifiziert. Das Schreiben entsprach exakt den Anforderungen der Cour de Cassation vom November 2022.
Der Handelsvertreter klagte auf 200.000 Euro. Wir verteidigten die GmbH vor dem Tribunal de commerce in Frankreich. Im Dezember 2024 wies das Gericht die Klage vollständig ab.
Die Gesamtkosten für Beratung, Detektiv und Gerichtsverfahren betrugen 22.000 Euro. Unser Mandant sparte netto 178.000 Euro.
Eine präventive Rechtsberatung VOR der Kündigung machte hier den Unterschied aus. Nachträglich entdeckte Pflichtverletzungen nutzen im französischen Recht nichts mehr.
Häufig gestellte Fragen (FAQ)
1. Wie hoch ist der Ausgleichsanspruch im französischen Recht?
Nach ständiger Rechtsprechung entspricht der Ausgleichsanspruch in der Regel zwei Jahresprovisionen (Durchschnitt der letzten drei Jahre Tätigkeit).
Zum Vergleich Deutschland: Der deutsche Ausgleichsanspruch nach Paragraph 89b HGB betragt höchstens EINE Jahresprovision (Durchschnitt der letzten fünf Jahre). Der französische Ausgleichsanspruch ist also tendenziell doppelt so hoch!
2. Ist der Ausgleichsanspruch in Frankreich immer geschuldet?
Nein. Der Ausgleichsanspruch entfällt in folgenden Fällen (Art. L134-13 Code de commerce)
– Grobes Verschulden des Handelsvertreters (bekannt und im Kündigungsschreiben genannt!)
– Eigenkündigung durch den Handelsvertreter (außer bei Umständen, die dem Auftraggeber zuzurechnen sind, oder wg. Alter/Krankheit)
– Vertragsabtretung an einen Dritten mit Zustimmung des Auftraggebers
Mit Ausnahmen dieser drei Fälle ist der Ausgleichsanspruch zwingend geschuldet.
3. Welche Frist gilt für die Geltendmachung des groben Verschuldens?
Der französische Handelsvertreter muss seinen Ausgleichsanspruch
innerhalb eines Jahres nach Beendigung des Vertrags geltend machen (Art. L134-12 Absatz 2 Code de commerce).
ACHTUNG: Dies ist eine Ausschlussfrist. Nach Ablauf dieser Frist erlischt der Anspruch endgültig.
Identisch in Deutschland: Auch in Deutschland gilt eine Jahresfrist nach Paragraph 89b Absatz 4 HGB.
4. Gilt die neue Rechtsprechung auch für alte Verträge?
Ja. Diese Rechtsprechung gilt unmittelbar für alle laufenden Verfahren und alle Kündigungen, die nach November 2022 ausgesprochen werden – unabhängig vom Datum des Vertragsabschlusses.
5. Was muss ich als deutsches Unternehmen beachten?
Wenn Sie mit französischen Handelsvertretern arbeiten:
– Beachten Sie, dass französisches Recht gilt – nicht deutsches Recht (Paragraph 89b HGB)
– Der Ausgleichsanspruch beträgt bis zu zwei Jahresprovisionen (doppelt so hoch wie in Deutschland)
– Bei Kündigung wegen grobem Verschulden: Ausdrückliche Benennung im Kündigungsschreiben ist zwingend!
– Lassen Sie sich von einem im französischen Handelsvertreterrecht bewandten Anwalt beraten!
Wichtiger Hinweis zum anwendbaren Recht
Für deutsche Unternehmen mit französischen Handelsvertretern gilt:
- Es gilt französisches Recht (Code de commerce), NICHT deutsches Recht (Paragraph 89b HGB)
- Der französische Ausgleichsanspruch ist höher (2 Jahresprovisionen vs. 1 Jahresprovision in Deutschland)
- Die französische Rechtsprechung von 2022/2024 gilt unmittelbar
- Eine nachträgliche Berufung auf grobem Verschulden ist im französischen Recht ausgeschlossen
Kontakt: Ihre deutsch-französischen Rechtsanwälte
Der Streit um den Ausgleichsanspruch bei französischen Handelsvertretern ist komplex und technisch anspruchsvoll. Die finanziellen Folgen sind für deutsche Unternehmen oft erheblich.
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- Deutsche Unternehmen: Beratung bei Kündigung französischer Handelsvertreter;
- Erstellung rechtssicherer Kündigungsschreiben nach französischem Recht;
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Françoise Berton, französische Rechtsanwältin
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