Die Haftung von Dritten für den missbräuchlichen Vertragsbruch von in einem Vertriebsnetz bestehenden Geschäftsbeziehungen
03.11.22

Der missbräuchliche Vertragsbruch von in einem Vertriebsnetz bestehenden Geschäftsbeziehungen führt zu einer ausgiebigen Rechtsstreitigkeit. Gesellschaften sehen sich nicht selten als Verursacherin oder Opfer mit einem solchen konfrontiert. Der Grundsatz ist einfach: auch wenn es einer Gesellschaft grundsätzlich freisteht, ihre Geschäftsbeziehungen mit diesem oder jenen Partner zu beenden, so kann sie dies nicht von heute auf morgen tun und muss eine mehr oder weniger lange Kündigungsfrist einhalten, je nach Bestehen ihrer Beziehungen mit dem betroffenen Partner. Ansonsten haftet die kündigende Vertragspartei für den missbräuchlichen Vertragsbruch auf der Grundlage von Artikel L442-1 des frz. Handelsgesetzbuches.
In der Regel beschränkt sich die Rechtsstreitigkeit eines missbräuchlichen Vertragsbruchs bestehender Geschäftsbeziehungen auf die beiden Parteien, die eine Geschäftsbeziehung hatten:
- einerseits die Gesellschaft, die den fehlerhaften Bruch direkt verursacht hat,
- andererseits die Gesellschaft, die sich als Opfer des fehlerhaften Bruchs versteht.
Im Zeitalter der globalisierten Geschäftsbeziehungen – und insbesondere der Vertriebsnetze – ist es nicht selten, dass eine oder mehrere Drittparteien zum missbräuchlichen Verhalten der Gesellschaft, die als die die Beziehung brechende angesehen wird, beigetragen haben bzw. direkt am Ursprung sind. Die Haftung wegen missbräuchlichem Vertragsbruch beruht in der Tat grundsätzlich auf das Verschulden. Infolgedessen hat die klagende Partie, die einen Schaden geltend machen will, den Nachweis des missbräuchlichen Verhaltens der kündigenden Partei zu erbringen. Als Beispiel wurde in einem Urteil vom 4.10.2016 entschieden, dass eine Vertriebsbeziehung nicht missbräuchlich beendet wurde, insofern als das missbräuchliche Verhalten des Lieferanten nicht nachgewiesen wurde.
Indem sie die juristischen Regelungen an die Realität angepasst hat, hat die frz. Rechtsprechung nach und nach anerkannt, dass eine dem fehlerhaften Vertragsbruch theoretisch fremde Gesellschaft dennoch für diesen haftbar gemacht werden kann. In diesem Sinne steht auch das Urteil vom 22.06.2022, das von der Kammer für Handelssachen des frz. BGH, des Kassationshofes, ergangen ist.
Ein durch die Leitung des Betriebsnetzes, die nicht Teil des Vertrages ist, diktierter Vertragsbruch bestehender Geschäftsbeziehungen
Die Tatsachen, die dem Urteil vom 22.06.2022 zugrunde liegen, betreffen ein bedeutsames Lebensmittel-Einzelhandelsunternehmen, den Konzern Leader Price, und einen seiner im Frucht- und Gemüsehandel spezialisierten Lieferanten, die Gesellschaft Esnault. Im Rahmen ihrer Tätigkeit versorgte Letztere mehrere Geschäfte, die unter der Firma Leader Price liefen. Die betreffenden Geschäfte haben durch die Anpassung an eine Richtlinie der Gesellschaft Leader Price exploitation (LPE), der Leitung des so geschaffenen Vertriebsnetzes plötzlich die Beziehungen mit der Gesellschaft Esnault beendet. Daraufhin hat diese die Gesellschaft LPE im Hinblick auf den Erhalt von Schadenersatz auf der Grundlage von Artikel L442-1 (ehemals L442-6, I, 5) des frz. Handelsgesetzbuches verklagt.
Nachdem gegen die Entscheidung in erster Instanz Berufung eingelegt wurde, wurde der Antrag der Gesellschaft Esnault – und anschließend der Gesellschaft LGA, welche in die Rechte und Pflichten der Esnault eingetreten ist – vom Berufungsgericht in Paris auf Grundlage zweier Hauptargumente und eines Hilfsarguments abgewiesen:
- der missbräuchliche Vertragsbruch der bestehenden Geschäftsbeziehungen konnte der das Vertriebsnetz leitenden Gesellschaft nicht vorgeworfen werden, da die 43 Geschäfte, die ihre Beziehungen mit der Gesellschaft Esnault beendet haben, von 36 verschiedenen Gesellschaften mit selbständigen und unterschiedlichen Rechtspersönlichkeiten der Gesellschaft LPE betrieben wurden;
- die von der Gesellschaft Esnault ausgestellten Rechnungen waren nicht an die Gesellschaft LPE selbst, sondern an die zahlreichen Niederlassungen unter der Firma gerichtet;
- der Beweis eines Franchise-Vertrages zwischen den betreffenden Filialen und der Gesellschaft LPE wurde nicht vorgelegt. Da einige dieser Filialen in Wirklichkeit unabhängige Franchisenehmer waren, sollten diese persönlich einen eventuellen Vertragsbruch der bestehenden Geschäftsbeziehungen, für den sie sich haftbar gemacht hätten, verantworten.
Die Gesellschaft LGA hat daraufhin Revision eingelegt.
Die ausschlaggebende Frage nach der Autonomie der Mitglieder des Vertriebsnetzes
In einem Urteil, das vermutlich einen Meilenstein darstellt, haben die Kassationsrichter das durch das Berufungsgericht von Paris ergangene Urteil aufgehoben. Ihrer Meinung nach schloss der Umstand, dass die betreffenden Filialen eine andere Rechtspersönlichkeit als die der Gesellschaft LPE hatten, nicht aus, dass Letztere sich für einen Vertragsbruch von Geschäftsbeziehungen, den sie ihnen faktisch auferlegt hatte, verantworten muss. Folglich oblag es dem Berufungsgericht, herauszufinden, ob diese Gesellschaften, unabhängig ihrer Status, über eine Entscheidungsautonomie in Bezug auf die Wahl ihrer Lieferanten verfügten und, ggf., ihre Geschäftsbeziehung mit diesen weiterführen konnten. Mit anderen Worten: die Berufungsrichter von Paris hätten überprüfen müssen, ob die von einer jeden der Filialen getroffenen Entscheidung, die Geschäftsbeziehung mit der Gesellschaft Esnault zu beenden, frei getroffen wurde oder ob diese, ganz im Gegenteil, von der Gesellschaft LPE auferlegt wurde, und dies sogar ohne Franchise-Vertrag oder Beziehung zwischen der Holdinggesellschaft und den Filialen.
Eine solche Entscheidung ist besonders wichtig, da sie die Bandbreite der Kriterien, die die das haftbar Machen einer Drittgesellschaft im Falle eines missbräuchlichen Vertragsbruchs bestehender Geschäftsbeziehungen ermöglicht, deutlich erweitert.
Vor dem Urteil vom 22.06.2022 hatte der frz. BGH, der Kassationshof, zwar bereits 2016 die Tür zur Verurteilung einer Holdinggesellschaft bei einem Vertragsbruch bestehender Geschäftsbeziehungen durch ihre Niederlassungen, die sie zu 100 % hielt, geöffnet, indem er festhielt, dass diese Niederlassungen in ihren Entscheidungen nicht autonom waren. Zu jener Zeit schien jedoch die Beziehung zwischen der Holding und den Niederlassungen eine ausschlaggebende Rolle gespielt zu haben und man konnte nicht behaupten, dass dieselbe Entscheidung ohne solche Verbindungen zwischen den betreffenden Gesellschaften getroffen worden wäre.
Mit dem Urteil vom 22.06.2022 ist nun deutlich, dass das Kriterium der Kapitalbeziehungen für den frz. BGH nicht das einzige Element ist, das berücksichtigt werden muss: die Tatsachen-Richter müssen sich in Wirklichkeit auf alle stehenden Elemente stützen, die ihnen für die Beurteilung, ob die Gesellschaft(en), die Verursacherin(nen) des Vertragsbruchs der Geschäftsbeziehungen war(en), über eine Autonomie in ihrer Entscheidungsfindung verfügte(n) oder nicht, zur Verfügung stehen. Die von den Richtern benutzten Wörter sind in der Tat auffallend und unmissverständlich, die diese ein Interesse an der Autonomie der betroffenen Gesellschaften auferlegen – unabhängig des rechtlichen Status.
Man kann folglich davon ausgehen, dass jede Beziehung zwischen Geschäftspartnern betroffen ist, einschließlich bei Fehlen eines „klassischen“ Vertriebsnetzes wie im Einzelhandel, sobald aufgezeigt werden kann, dass eine Gesellschaft von einer anderen zum Vertragsbruch ihrer Geschäftsbeziehungen mit diesem oder jenem Geschäftspartner gezwungen wurde.
Für die Leiter der Vertriebsnetze ist Vorsicht geboten
Wenn die frühere Rechtsprechung des frz. BGH noch Zweifel offen und annehmen ließ, dass nur Holdinggesellschaften für den Vertragsbruch bestehender, ihren Niederlassungen auferlegten Geschäftsbeziehungen haftbar gemacht werden konnten, so ist dieser Zweifel nun ausgeräumt. Von nun an recht die fehlende Autonomie der Gesellschaft, die den Vertragsbruch verursacht hat, aus, um die Gesellschaft, der sie folgt, haftbar zu machen.
Folglich ist für die Leitung der Vertriebsnetze und allgemeiner für alle Gesellschaften, die einen wichtigen Einfluss auf andere ausüben, größte Vorsicht geboten, wenn sie Letzteren die Trennung von diesem oder jenem Geschäftspartner auferlegen möchten. Die Einhaltung einer Kündigungsfrist ist vermutlich die Lösung, die juristisch am besten vor einem Gerichtsverfahren und der Zahlung eines hohen Schadenersatzes schützt.
Françoise Berton, französische Rechtsanwältin
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