Berücksichtigung der Rentennähe bei der Sozialauswahl
08.02.23

Mit dem Urteil des Bundesarbeitsgerichts (BAG) vom 08.12.2022 (6 AZR 31/22) wurde Rechtsklarheit über die Frage geschaffen, wie das „Lebensalter“ des Arbeitnehmers, insbesondere wenn dieser bald in Rente geht, im Rahmen der Sozialauswahl bei einer betriebsbedingten Kündigung in Deutschland berücksichtigt werden kann.
Mangelnde Schutzwürdigkeit aufgrund des rentennahen Alters
Der Insolvenzverwalter und eine Arbeitnehmerin stritten um die soziale Rechtfertigung zweier Kündigungen.
Die 1957 geborene Arbeitnehmerin war seit 1972 bei dem insolventen Unternehmen beschäftigt. Nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens schloss der Insolvenzverwalter mit dem Betriebsrat einen Interessenausgleich mit Namensliste, der die Kündigung von 61 der 396 Beschäftigten vorsah. Auch die Arbeitnehmerin stand auf dieser Liste und erhielt ein Kündigungsschreiben vom 27.03.2020 und eine vorsorgliche erneute Kündigung vom 29.06.2020.
Die Arbeitnehmerin war der Ansicht, die Kündigungen seien unwirksam. Sie beantragte daher mit ihrer Kündigungsschutzklage beim Arbeitsgericht, festzustellen, dass das bestehende Arbeitsverhältnis nicht durch die Kündigungen aufgelöst wurde.
Der Insolvenzverwalter war hingegen der Auffassung, die Kündigungen seien wirksam. Die Arbeitnehmerin sei in ihrer Vergleichsgruppe sozial am wenigsten schutzwürdig, da sie als einzige nach der Beendigung des Arbeitsverhältnisses die Möglichkeit zum zeitnahen Bezug einer Altersrente habe. Aus diesem Grund falle sie hinter allen anderen vergleichbaren Arbeitnehmern zurück. Der Insolvenzverwalter beantragte daher Klageabweisung.
Berücksichtigung des Rentenalters durch die Richter
Das Arbeitsgericht hat der Arbeitgeberin Recht gegeben. Der Insolvenzverwalter ging daraufhin in die Berufung vor das Landesarbeitsgericht (LAG) Hamm (dort Az. 16 Sa 152/21). Doch auch das LAG hielt die Kündigungen für unwirksam. Schließlich zog der Insolvenzverwalter vor das Bundesarbeitsgericht (BAG).
BAG erlaubt Berücksichtigung der Rentennähe bei der Gewichtung des Lebensalters
Das BAG erachtete im Ergebnis die erste Kündigung für unwirksam und die zweite hingegen für wirksam.
Das BAG hebt zunächst in seinem Urteil nochmal Sinn und Zweck der Sozialauswahl hervor. Mit der sozialen Auswahl soll unter Berücksichtigung der im Gesetz genannten Auswahlkriterien demjenigen Arbeitnehmer gekündigt werden, der sozial am wenigsten schutzbedürftig ist.
Dabei fällt das Kriterium „Lebensalter“ grundsätzlich zum Nachteil für jüngere Arbeitnehmer aus. Ihnen wird eine bessere Chance auf dem Arbeitsmarkt eingeräumt und damit eine geringere Schutzbedürftigkeit. Lebensältere Arbeitnehmer genießen hierbei hingegen einen größeren Schutz; sie haben typischerweise eine schlechtere Vermittlungschance auf dem Arbeitsmarkt. Ihnen ist somit nachrangig zu kündigen.
Das BAG nuancierte nunmehr die Bedeutung des Kriteriums „Lebensalter“. Das Kriterium „Lebensalter“ kann auch zum Nachteil für ältere Arbeitnehmer berücksichtigt werden. Das BAG hat ausgeführt, „dass die Schutzbedürftigkeit lebensälterer Arbeitnehmer nämlich dann wieder abfällt, wenn der Arbeitnehmer spätestens innerhalb von zwei Jahren nach dem Ende des Arbeitsverhältnisses über ein Ersatzeinkommen in Form einer abschlagsfreien Rente wegen Alters […] verfügen kann oder über ein solches bereits verfügt, weil er eine abschlagsfreie Rente wegen Alters bezieht“.
Es kommt auf die Gewichtung aller Kriterien an
Vorliegend kam das BAG dennoch zur Unwirksamkeit der ersten Kündigung. Bei der Sozialauswahl ist die Abwägung anhand aller gesetzlichen Auswahlkriterien vorzunehmen, wie etwa dem der „Betriebszugehörigkeit“ oder dem der „Unterhaltspflichten“. Diese weiteren Kriterien hatte der Insolvenzverwalter bei seiner Auswahl zunächst außer Acht gelassen und die erste Kündigung nur auf die Rentennähe gestützt. Das BAG hielt dies für grob fehlerhaft.
Das Urteil sorgt für mehr Klarheit für Arbeitgeber. Sie können anhand der Rentennähe einschätzen, ob ein Arbeitnehmer aufgrund seines Alters mehr oder weniger schutzbedürftig ist. Ein jüngerer Arbeitnehmer kann am wenigsten schutzbedürftig sein, weil er leicht wieder eine Neuanstellung finden kann. Aber auch ein älterer Arbeitnehmer kann am wenigsten schutzbedürftig sein, wenn er binnen zwei Jahren eine Rente erhalten kann. Die anderen Kriterien dürfen jedoch nicht vergessen werden.
Langfristig gesehen dürfte das Urteil schon aufgrund der demographischen Entwicklung häufig zitiert werden. Ferner könnte das Urteil auch dahin blicken lassen, dass in der Sozialauswahl das Kriterium insofern abstrahiert wird, dass ein Arbeitnehmer weniger schutzbedürftig ist, wenn er nicht mehr auf den Arbeitsmarkt angewiesen ist, um ein Einkommen zu erzielen. Aber das gilt es nun abzuwarten.
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Françoise Berton, französische Rechtsanwältin
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