Gilt eine neue Rechtsprechung im laufenden Gerichtsverfahren?
21.04.21

Die französische Rechtsprechung wird von allen Entscheidungen der Gerichte in Frankreich gebildet und in vielen Rechtsgebieten vom höchsten Gericht, dem frz. Bundesgerichtshof, d.h. dem sogenannten Kassationshof (Cour de cassation) geleitet. Der Kassationshof setzt den Maßstab der auf gerichtliche Streitigkeiten anwendbaren Rechtsprechung.
Der Antragsteller muss diese Rechtsprechung in seiner Verteidigung berücksichtigen, was eine hervorragende Kenntnis der Rechtsprechung voraussetzt. Doch diese Rechtsprechung wird noch komplizierter dadurch, dass sie sich logischerweise verändern kann.
Es ist daher dringend geboten, einen Rechtsanwalt zur effizienten Vertretung vor Gericht zu bauftragen.
Änderung der Rechtsprechung während des Gerichtsverfahrens
Gerichtsverfahren dauern manchmal über viele Jahre an. Sie sind insbesondere dann langwierig, wenn der Antragsteller, der in erster Instanz verloren hat, entscheidet, Berufung einzulegen, dann die Rechtsauffassung des französischen Kassationshofes einholt und schließlich wieder ein neues Berufungsgericht anruft, das die Streitigkeit endgültig entscheiden wird.
Doch was geschieht, wenn sich die Auffassung des Kassationshofes über die Jahre der Verfahrensanhängigkeit in einer wesentlichen Rechtsfrage bezüglich des Rechtsstreits ändert? Diese für die Praxis äußerst wichtige Frage der Anwendung der Rechtsprechung im Laufe der Zeit wurde kürzlich in einem Urteil vom Kassationshof vom 2.4.2021 (n°19-18.814) behandelt. Dieses Urteil ist umso wichtiger, weil es im großen Senat des Kassationshofes, gefällt wurde. Die Richter des Kassationshofes haben entschieden, eine Verfahrensregel, die seit 1971 befolgt wurde, grundlegend anzupassen.
Auffassung vom Kassationshof muss befolgt werden
Der dem Urteil zugrunde liegende Fall betrifft die Kündigung eines Mitarbeiters der Gesellschaft Air Liquide France Industrie. Der Arbeitnehmer, der sich als Opfer einer gewerkschaftlichen Diskriminierung sah, machte in einem Gerichtsverfahren in Frankreich eine Entschädigung für seinen Angstschaden (préjudice d’anxiété, spezifischer Begriff im französischen Arbeitsrecht) im Zusammenhang mit der Asbestbelastung an den verschiedenen Standorten geltend, an denen er arbeitete.
Im April 2015 gibt das Berufungsgericht von Paris seiner Klage statt und verurteilt den Arbeitgeber dazu, Schadensersatz für die Angstschäden zu leisten.
Der Arbeitgeber bestreitet die Entscheidung des Berufungsgerichts in der Rechtsfrage der Voraussetzungen für die Gewährung der Entschädigung. Im September 2016 hebt der Kassationshof die Entscheidung des Berufungsgerichts auf. Der Kassationshof wendet seine Rechtsprechung an und schlussfolgert daraus, dass das Berufungsgericht hätte herausfinden müssen, ob:
- die Einrichtungen, denen der Arbeitnehmer zugewiesen war, auf der Liste der Einrichtungen stand, die für die Vorruhestandsrente der Asbest ausgesetzten Arbeiter (allocation de cessation anticipée d’activité des travailleurs de l’amiante, kurz ACAATA) in Frage kommen und
- diese Einrichtungen daher einen Anspruch auf Entschädigung berechtigen.
Das mit der Berufung befasste Berufungsgericht muss nun der Auffassung des Kassationshofes folgen und den Entschädigungsanspruch des Arbeitnehmers zurückweisen.
Offizielle Position Entscheidungsverkündung geändert
Bezüglich der konkreten Frage der Anspruchsberechtigung auf Entschädigung im Zusammenhang mit Asbestbelastung hat der französische Kassationshof im April 2019, nach dem im vorliegenden Fall bereits ergangenen Urteil, seine Auffassung in einem anderen Gerichtsverfahren geändert. Es ist nicht mehr erforderlich, in einer Einrichtung gearbeitet zu haben, die auf der Liste der für die spezielle Vorruhestandsrente in Frage kommenden Einrichtungen steht. Laut dieser neuen Rechtsprechung hätte der Arbeitnehmer Anspruch auf eine Entschädigung gehabt.
Der Arbeitnehmer wird über diese Änderung der Rechtsprechung informiert und entscheidet, diesen zu seinem Vorteil zu nutzen. Er legt erneut Revision gegen das vom Berufungsgericht ergangene Urteil ein.
Der Arbeitgeber, der das Verfahren dank der ehemaligen Rechtsprechung des Kassationshofes gewonnen hat, bestreitet die Zulässigkeit der Revision. Nach der ständigen Rechtsprechung ist ein Rechtsmittel gegen eine Entscheidung, bei der das Gericht, an das die Sache zurückgewiesen wurde, sich an die Rechtsauffassung des Kassationsurteils gehalten hat, tatsächlich unzulässig, unabhängig davon, ob der Kassationshof nach dem dieses Gericht betreffende Urteil in einer anderen Instanz ein Urteil erlassen hat, das die in ersterem Urteil zum Ausdruck gebrachte Lösung umkehrt.
Änderung der Rechtsprechung zum Vorteil der Prozessparteien
In dem Urteil vom 2.4.2021 erinnern die Kassationsrichter zunächst an die Rechtsprechung in der vorliegenden Sache, die auf ein Urteil vom 30.4.1971 zurückgeht. Sie weisen darauf hin, dass diese im Wesentlichen auf den Grundsätzen der ordnungsgemäßen Rechtspflege und der Rechtssicherheit beruht, da sie verhindert, dass eine in Übereinstimmung mit dem Urteil vom Kassationshof ergangene gerichtliche Entscheidung in Frage gestellt wird, und es ermöglicht, den Rechtsstreit zu beenden.
Die Kassationsrichter lassen nun aber die Erwägung einer Normänderung, in etwa eine Änderung der Rechtsprechung, mit folgenden Begründungen zu:
- Sobald eine rechtskräftige gerichtliche Entscheidung den Rechtsstreit nicht beendet hat, ist eine Änderung der Rechtsprechung vom Richter zu beachten. Der Richter muss in diesem Fall die Situation neu bewerten, wenn ein Rechtsmittel dementsprechend geltend gemacht wird.
- Das Erfordernis der Rechtssicherheit begründet keinen erworbenen Anspruch auf einen festen Bestand an Rechtsprechung. Eine Änderung der Rechtsprechung, sofern sie zu einer verstärkten Begründung führt, genügt dem Erfordernis der Vorhersehbarkeit der Norm.
- Die Berücksichtigung der neuen oder geänderten Norm trägt zur Effizienz des Zugangs zu den Gerichten bei und gewährleistet die Gleichbehandlung von Prozessparteien in einer gleichwertigen Situation. Es ist tatsächlich schwer zu verstehen, warum je nach betreffender Instanz ein Antragsteller von einem Umschwung der Rechtsprechung profitieren könnte und ein anderer nicht, obwohl keiner der beiden erlebt hat, dass der Streit, an dem sie beteiligt sind, durch eine unwiderrufliche Gerichtsentscheidung beigelegt wurde.
- Die Berücksichtigung der neuen oder geänderten Norm trägt sowohl zur rechtlichen Kohärenz als auch zur Einheitlichkeit der Rechtsprechung bei.
Von nun an kann eine Änderung der Norm während eines laufenden Verfahrens geltend gemacht werden, solange noch keine endgültige Gerichtsentscheidung getroffen wurde. Diese Lösung erscheint umso realistischer und zeitgemäßer, als Gerichtsverfahren tendenziell immer länger dauern und das „Einfrieren“ des Rechtsstandes im Laufe eines Verfahrens ungerecht ist und von den im Rhythmus von Tweets und ständiger Information lebenden Prozessbeteiligten immer weniger verstanden werden wird.
Françoise Berton, französische Rechtsanwältin
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Bild: Xiongmao