Der Begriff des Gesellschaftsinteresses und das Pacte-Gesetz
24.06.19

Der Begriff des eigenständigen Gesellschaftsinteresses
Das Gesellschaftsinteresse (interêt social) ist grundlegend für eine Gesellschaft im französischen Gesellschaftsrecht: Die Gesellschaft muss ein eigenes Interesse haben, das unabhängig vom Interesse ihrer Gesellschafter ist. Das Gesellschaftsinteresse setzt voraus, dass die Führungskräfte der Gesellschaft unter Beachtung des Gesellschaftsinteresses Entscheidungen treffen und handeln. Alle Entscheidungen müssen zweckmäßig sein. Somit ist die Politik der Führungskräfte auf die für die Gesellschaft zu erwartende Nützlichkeit und Einträglichkeit ausgerichtet.
Es waren die Richter, die diesen Begriff im Laufe der Zeit kreiert haben, indem sie sich auf Artikel 1833 des französischen Zivilgesetzbuches (Code civil) gestützt haben, welcher Folgendes vorsieht: „Jede Gesellschaft muss einen rechtmäßigen Gegenstand haben und im gemeinsamen Interesse der Gesellschafter gegründet werden„. Dieser Begriff des Gesellschaftsinteresses wurde somit vom französischen Kassationshof geschaffen und nicht vom Gesetzgeber.
Aus diesem Grund gibt es keine genaue Definition des Gesellschaftsinteresses: Es handelt sich um einen vielgestaltigen Begriff, der je nach vorliegender Situation unterschiedlich ist. Manche Juristen sehen darin das gemeinsame Interesse der Gesellschafter, das von einer im Rahmen der Generalversammlungen festgestellten Mehrheit ausgedrückt wird. Andere verweisen auf den Begriff des Gesellschaftsgegenstandes, der in der Satzung der Gesellschaft definiert wird, um das Gesellschaftsinteresse genauer zu bestimmen. Dieser Ansatz ist jedoch angesichts der Rechtsprechung unvollständig: Das Gesellschaftsinteresse kann nicht allein auf den Zweck der Gesellschaft beschränkt werden.
Die gegenwärtige Zweckbestimmtheit des Gesellschaftsinteresses
Die französischen Gerichte haben das Gesellschaftsinteresse vielseitig genutzt. Es wurde in recht unterschiedlichen Zusammenhängen angewandt. In jedem Fall konnten die Missachtungen des Gesellschaftsinteresses auf unterschiedliche Weise von den französischen Richtern sanktioniert werden.
Das Gesellschaftsinteresse kann zum Beispiel im Rahmen von Veruntreuung von Gesellschaftsvermögen genutzt werden, um Gesellschafter zu sanktionieren, die das Gesellschaftsvermögen im Interesse einer anderen Gesellschaft genutzt haben, an der sie ebenfalls beteiligt waren. Somit ist die Nutzung des Gesellschaftsvermögens, der Position oder ihrer Kreditwürdigkeit nur dann strafbar, wenn sie gegen das Gesellschaftsinteresse verstößt (Urteil des Kassationshofs vom 13.12.2005).
Im gleichen Sinne wurde auch die Sicherheit in Form einer Hypothek, welche eine Tochtergesellschaft als Garantie für die Rückzahlung eines Bankdarlehens der Muttergesellschaft gegeben hatte, als Verstoß gegen das Interesse der Tochtergesellschaft gewertet. Die Richter entschieden, dass diese Handlung die Gesellschaft möglicher Ressourcen berauben kann, und zwar ohne Gegenleistung (Urteil des Kassationshofs vom 13.11.2007). Die Sicherheit wurde somit für nichtig erklärt.
In jedem Fall ist es den gesetzlichen Vertretern untersagt, die Gesellschaft für ihre persönlichen Interessen oder für Interessen, die der von ihnen geführten Gesellschaft fremd sind, zu nutzen.
Das Gesellschaftsinteresse ist also der Maßstab für die Gerichten, der es erlaubt, bestimmte Handlungen zu bestätigen oder sie für nichtig zu erklären oder sogar die Urheber haftbar zu machen.
Das Problem mit dem Begriff des Gesellschaftsinteresses besteht darin, dass das französische Gesetz bisher keinen Hinweis darauf enthält. Daraus ergab sich eine fehlende Einheitlichkeit, die eine Gefahr bei der genauen Bestimmung der Reichweite des Gesellschaftsinteresses darstellen konnte. Wie konnten die Gesellschafter sowie die Führungskräfte sicher sein, dass sie einen Begriff ohne genaue rechtliche Umrisse beachteten?
Das Gesellschaftsinteresse im Pacte-Gesetz
Seit mehreren Jahren diskutieren Juristen darüber, dem Gesellschaftsinteresse eine gesetzliche Grundlage zu geben. Kritiker betonen, dass die Bestimmungen des französischen Zivilgesetzbuches überholt sind und dass es notwendig ist, neue Faktoren aus dem Umfeld der Gesellschaften zu berücksichtigen.
Das Pacte-Gesetz (Aktionsplan zum Wachstum und zur Transformation der Unternehmen) hat sich zum Ziel gesetzt, ein „neues“ Gesellschaftsinteresse einzuführen. Dieses Gesetz wurde am 11.04.2019 vom französischen Parlament verabschiedet und am 22.05.2019 verkündet.
In Artikel 1833 wurde ein Absatz hinzugefügt: „Die Gesellschaft wird entsprechend ihres Gesellschaftsinteresses geführt, unter Berücksichtigung der Herausforderungen ihrer Tätigkeit in Bezug auf die Gesellschaft und ihr Umfeld.“
Es ist jedoch anzumerken, dass auch wenn das Gesellschaftsinteresse in den gesetzlichen Bestimmungen genannt wird, der Begriff weiterhin keine genaue rechtliche Definition besitzt. Somit liegen die Interpretation und Anwendung des Begriffs weiterhin im freien Ermessen der Richter.
Die Berücksichtigung der gesellschaftlichen und Umfeld bezogenen Herausforderungen in Bezug auf die Führung der Gesellschaft muss ebenfalls von den Gerichten näher definiert werden. Denn auch wenn deren Erwähnung zunächst lobenswert scheint, da dadurch die aktuell wiederkehrenden gesellschaftlichen und Umfeld bezogenen Problematiken berücksichtigt werden können, so bleiben diese Herausforderungen unklar und müssen umgrenzt werden.
Diese Gesetzesänderung wird in jedem Fall von Geschäftsführern besonders genau beobachtet, da diese nicht möchten, dass manche ihrer Handlungen von den Gerichten angefochten werden. Die neue Bestimmung verstärkt die Sorgfalt, welche die gesetzlichen Vertreter der Gesellschaft an den Tag legen müssen. Sie könnten haftbar gemacht werden, falls ihre Geschäftsführung gegen die genannten Begriffe verstößt.
Françoise Berton, französische Rechtsanwältin
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