Fahrten vom Wohnort zu Kunden eines Außendienst-Mitarbeiters und Arbeitszeit

20.01.23
Der EuGH betrachet Fahrten zu Kunden als Arbeitszeit
Der EuGH betrachet Fahrten zu Kunden als Arbeitszeit
Der EuGH betrachet Fahrten zu Kunden als Arbeitszeit

Lange Zeit galt die Fahrzeit zwischen dem Wohnort des Arbeitnehmers, insbesondere des Außendienst-Mitarbeiters, und den Kundenstandorten nicht als tatsächliche Arbeitszeit. Der Gerichtshof der Europäischen Union (im Folgenden: EuGH) änderte seine Position bereits 2015, und der frz. Kassationshof folgte seiner Argumentation erst jetzt in einem Urteil vom November 2022, nach jahrelangem Widerstand.

Die Fahrzeit vom Wohnort zum Kunden kann als Arbeitszeit qualifiziert werden

In einem kürzlich ergangenen Urteil vom 23. November 2022 (Nr. 20-21.924) hat sich der frz. Kassationshof nämlich letztendlich der Position des EuGH in Bezug auf die Berücksichtigung der beruflichen Fahrzeit von Außendienst-Mitarbeitern zwischen ihrem Wohnort und den Kundenstandorten als tatsächliche Arbeitszeit angeschlossen. Zu den Außendienst-Mitarbeitern gehören beispielsweise Vertriebsmitarbeiter, die sehr regelmäßig die Kunden ihres Arbeitgebers besuchen.

Der frz. Kassationshof stellt nun fest, dass die Fahrzeit eines Außendienst-Mitarbeiters zwischen seiner Privatwohnung und den Standorten der ersten und letzten Kunden des Tages unter bestimmten Bedingungen als effektive Arbeitszeit angesehen werden kann und somit in die Berechnung der Überstunden einfließt.

Diese Änderung der Rechtsprechung war notwendig, um im Einklang mit dem Europarecht zu sein, das seit mehreren Jahren eine breitere Definition der effektiven Arbeitszeit als das französische Arbeitsrecht hat.

Definition der effektiven Arbeitszeit

Zur Erinnerung: Die effektive Arbeitszeit wird wie folgt definiert. Es handelt sich um die Zeit, in der:

1. der Arbeitnehmer seinem Arbeitgeber zur Verfügung steht;

2. der Arbeitnehmer den Anweisungen des Arbeitgebers Folge leistet;

3. ohne seinen persönlichen Beschäftigungen frei nachgehen zu können (Artikel L. 3121-1 des Arbeitsgesetzbuchs).

Grundsätzlich ist die Fahrzeit zwischen Wohnung und Arbeitsplatz keine tatsächliche Arbeitszeit. Sie wird jedoch in Form von Ruhezeiten oder einer finanziellen Entschädigung ausgeglichen, wenn diese Zeit die normale Fahrzeit zwischen Wohnort und gewöhnlichem Arbeitsplatz überschreitet (Artikel L. 3121-4 Arbeitsgesetzbuch).

Aber was ist mit Außendienst-Mitarbeitern, die naturgemäß weder einen festgelegten Arbeitsplatz noch eine normale Fahrzeit zwischen ihrem Wohnort und den verschiedenen Kundenstandorten haben?

Sind die Fahrten der Außendienst-Mitarbeiter ohne festen Arbeitsort zwischen Wohnort und Niederlassung der Kunden als Arbeitszeit im Sinne des Europarechts anzusehen?

Im Jahr 2011 hatte ein auf Installation und Wartung von Sicherheitssystemen spezialisiertes Unternehmen entschieden, seine Regionalbüros zu schließen, und wies sämtliche seiner Angestellten dem Zentralbüro in Madrid zu.

Die Arbeitnehmer hatten als Aufgabe die Installation oder Wartung der Sicherheitsvorrichtungen bei verschiedenen Kunden.

Während die Arbeitnehmer sich ursprünglich in die Regional-Büros begeben mussten, um ihr Firmenfahrzeug abzuholen, verfügten sie infolge dieser Neuorganisation über ein Firmenfahrzeug in ihrem Wohnort, sodass sie direkt zum Kunden fahren konnten. Am Vortag ihres Arbeitstages erhielten sie über ihr Mobiltelefon einen Fahrplan mit den verschiedenen Standorten, die sie am nächsten Tag aufzusuchen hatten, samt den Uhrzeiten der Termine mit den Kunden. Die Entfernung zwischen ihrem Wohnort und dem Einsatzort betrug manchmal über 100 Kilometer, und die Fahrt konnte auch wegen des Verkehrs drei Stunden dauern.

Das spanische Unternehmen betrachtete jedoch diese Fahrzeit zwischen dem Wohnort der Arbeitnehmer und dem Standort des ersten und des letzten Kunden als Ruhezeit und nicht als Arbeitszeit. Dementsprechend wurde die tägliche Arbeitszeit ab dem Zeitpunkt der Ankunft der Arbeitnehmer am Standort des ersten Kunden des Tages bis zum Zeitpunkt der Abreise vom Standort des letzten Kunden berechnet.

Nachdem sich das Unternehmen geweigert hat, die Fahrzeiten zwischen dem Wohnort der Arbeitnehmer und dem Standort des ersten und des letzten Kunden als Arbeitszeit zu berücksichtigen, wurde eine Anklage vor dem spanischen Gericht vorgelegt.

Kein Zwischenbegriff im Europarecht zwischen „Arbeitszeit“ und „Ruhezeit“ der Arbeitnehmer

Das spanische vorlegende Gericht hat sich auf die europäische Richtlinie 2003/88 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung, welche den Begriff „Arbeitszeit“ definiert, berufen.

Nach dieser Richtlinie stellt die Arbeitszeit „jede Zeitspanne, während der ein Arbeitnehmer gemäß den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder Gepflogenheiten arbeitet, dem Arbeitgeber zur Verfügung steht und seine Tätigkeit ausübt oder Aufgaben wahrnimmt“ dar. Die Ruhezeit wird dagegen definiert als „jede Zeitspanne außerhalb der Arbeitszeit.“

Folglich hat das spanische Gericht festgestellt, dass die Begriffe der Arbeitszeit und der Ruhezeit in dieser Richtlinie einander gegenübergestellt werden und, dass diese europäische Richtlinie keine dazwischen liegenden Situationen, wie die des spanischen Arbeitnehmers, miteinbeschließt.

Vor diesem Hintergrund hat der spanische Gerichtshof (die Audiencia Nacional) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof der Europäischen Union eine Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen.

Es ging um die Frage, ob unter solchen Umständen die Fahrzeit zwischen Wohnort und Kundenniederlassung eines Arbeitnehmers, der keinem festen Arbeitsort zugewiesen ist, als „Arbeitszeit“ im Sinne der europäischen Richtlinie anzusehen ist.

Fahrzeit des Arbeitnehmers ohne festen oder gewöhnlichen Arbeitsort zwischen dem Wohnort und dem Standort des ersten und des letzten Kunden stellt im Sinne des Europarechts eine Arbeitszeit dar

In seiner Entscheidung vom 10. September 2015 hat der EuGH bestätigt, dass die Richtlinie 2003/88 keine Zwischenkategorie zwischen den Arbeitszeiten und den Ruhezeiten vorsieht. Er hat daher geprüft, ob die Fahrzeit der spanischen Arbeitnehmer zwischen Wohnort und Kundenniederlassung die Kriterien, die durch den Begriff „Arbeitszeit“ festgelegt wurden, erfüllte.

Nach Ansicht des spanischen Unternehmens bestand die Tätigkeit der Arbeitnehmer in der Installation oder der Wartung der Sicherheitsvorrichtungen bei den Kunden. Während dieser Fahrzeit übten die Arbeitnehmer daher laut dem spanischen Unternehmen ihre Tätigkeit nicht aus. Der EuGH hat jedoch dieses Argument verworfen. Nach seiner Ansicht sprachen mehrere Argumente für eine Arbeitszeit:

  • Die Fahrten von Arbeitnehmern zu den von ihrem Arbeitgeber bestimmten Kunden waren das notwendige Mittel, um bei diesen Kunden ihre Aufgaben erfüllen zu können. Somit übten diese Arbeitnehmer während der Fahrzeit zu den Kunden ihre Tätigkeit aus;
  • während dieser Fahrten unterlagen die Arbeitnehmer den Anweisungen ihres Arbeitgebers, der die Kundenreihenfolge ändern oder einen Termin streichen oder hinzufügen konnte. Daher haben für den Gerichtshof die Arbeitnehmer während der Fahrzeit nicht die Möglichkeit, frei über ihre Zeit zu verfügen und ihren eigenen Interessen nachzugehen, so dass sie dadurch ihren Arbeitgebern zur Verfügung standen.

Eine vom Europarecht beinflusste Änderung der französischen Rechtsprechung

Bisher hatte der frz. Kassationshof Widerstand geleistet und sich nicht an die Position der europäischen Rechtsprechung angepasst und war der Ansicht, dass der Weg zwischen der Wohnung und den Kundenstandorten keine effektive Arbeitszeit darstellte. Der frz. Kassationshof war daher der Ansicht, dass diese Fahrtzeiten unter Artikel L. 3121-4 des französischen Arbeitsgesetzbuchs fielen, in dem es heißt: „Die Zeit, in der man beruflich unterwegs ist, um sich zum Ort der Erfüllung des Arbeitsvertrags zu begeben, ist keine effektive Arbeitszeit„.

Nunmehr ist es der Ansicht, dass diese Fahrzeit für Außendienst-Mitarbeiter unter bestimmten Bedingungen effektive Arbeitszeit darstellen kann.

Der frz. Kassationshof war aufgrund eines Urteils des europäischen Gerichts im Jahr 2021 gezwungen, der Argumentation des EuGH zu folgen. In seinem Urteil stellte der EuGH nämlich fest, dass die Mitgliedstaaten zwar einen Ermessensspielraum haben, die Begriffe „Arbeitszeit“ und „Ruhezeit“ jedoch Begriffe des EU-Rechts mit objektiven Definitionen sind und die Mitgliedstaaten somit gezwungen sind, ihre Rechtsvorschriften anzupassen.

Dieses Urteil zwang den frz. Kassationshof daher, seine Position zu ändern.

Die Fahrten von Außendienst-Mitarbeitern können nun effektive Arbeitszeit im Sinne des französischen Rechts darstellen.

Der frz. Kassationshof ist nun offiziell der Ansicht, dass, wenn die Fahrzeiten, die ein Außendienst-Mitarbeiter zwischen seinem Wohnort und den Standorten des ersten und letzten Kunden zurücklegt, der Definition von effektiver Arbeitszeit gemäß Artikel L. 3121-1 des Arbeitsgesetzbuches entsprechen, diese Zeiten nicht in den Anwendungsbereich von Artikel L. 3121-4 desselben Gesetzes fallen.

Im Streitfall muss der Richter nun prüfen, ob der Arbeitnehmer während der Fahrzeit dem Arbeitgeber zur Verfügung steht und sich an dessen Anweisungen hält, ohne seinen persönlichen Beschäftigungen nachgehen zu können (Definition der effektiven Arbeitszeit). Wenn dies der Fall ist, müssen diese Stunden bei der Berechnung der tatsächlichen Arbeitszeit berücksichtigt werden, was sich natürlich insbesondere auf die Berechnung von Überstunden auswirkt. Umgekehrt, wenn der Arbeitsweg nicht den Bedingungen der effektiven Arbeitszeit entspricht, hat der Arbeitnehmer, der einen Arbeitsweg zurücklegt, der die normale Fahrzeit zwischen Wohnung und Arbeitsplatz überschreitet, Anspruch auf die in Artikel L. 3121-4 des Arbeitsgesetzbuchs vorgesehene finanzielle Gegenleistung oder in Form von Ruhezeiten, aber keinen Anspruch auf eventuelle Überstunden.

Konkrete Analyse der Situation des reisenden Arbeitnehmers

Im vorliegenden Fall handelte es sich um einen Vertriebsmitarbeiter, der 2009 von dem Unternehmen Etablissements Décayeux eingestellt wurde. Es handelte sich um einen Außendienst-Mitarbeiter, er hatte also keinen gewöhnlichen Arbeitsort.

Der Vertriebsmitarbeiter musste während seiner Fahrten in einem vom Unternehmen zur Verfügung gestellten Fahrzeug Termine vereinbaren. Außerdem musste er verschiedene Gesprächspartner (Kunden, Vertriebsleiter, Assistenten und Techniker) mithilfe eines Geschäftstelefons mit Freisprecheinrichtung anrufen oder beantworten. Ein Teil seiner geschäftlichen Telefongespräche, nämlich die auf Geschäftsreisen, wurde nicht vergütet.

Außerdem arbeitete der Arbeitnehmer in einem sehr großen Vertriebsgebiet im Westen Frankreichs und musste manchmal am Ende eines Tages in einem Hotel übernachten, um am nächsten Tag geplante Besuche fortsetzen zu können.

Der Arbeitnehmer klagte daher 2015 vor einem Arbeitsgericht auf Lohnnachzahlung für Überstunden, die seinen Fahrtzeiten zu Beginn und am Ende des Arbeitstages entsprachen, und beantragte die gerichtliche Auflösung seines Arbeitsvertrags.

Am 19. Oktober 2015 wurde er gekündigt.

Hier befand das Berufungsgericht Rennes aufgrund der konkreten Tätigkeit des Arbeitnehmers auf seinen Dienstfahrten, dass er :

1.  seinem Arbeitgeber zur Verfügung stand und

2.  sich während dieser Fahrten an seine Anweisungen hielt,

Dies wurde vom frz. Kassationshof bestätigt.

So wurden die Fahrtzeiten als tatsächliche Arbeitszeit gezählt und gingen somit in die Berechnung der Überstunden ein: Der Arbeitgeber wurde schließlich dazu verurteilt, dem Arbeitnehmer die Überstunden auszuzahlen.

Der Richter muss also die Einschränkungen des Arbeitnehmers bei seinen Fahrten prüfen, um festzustellen, ob es sich um tatsächliche Arbeitszeit handelt oder nicht.

Dieses Urteil hat weitreichende Folgen und zwingt Arbeitgeber, vor der Einstellung eines Außendienst-Mitarbeiters zu überlegen, welche Arbeitszeitregelung sie anwenden wollen: z. B. eine Jahres-Tagespauschale mit freier Zeiteinteilung vorsehen, um die Überstunden weitgehend auszuschließen? Es ist auch möglich, in der Reiserichtlinie der Arbeitnehmer vorzusehen, dass sie während der Reise ihren persönlichen Beschäftigungen nachgehen dürfen und z. B. nicht verpflichtet sind, ans Telefon zu gehen, um zu vermeiden, dass später Überstunden bezahlt werden müssen.

Françoise Berton, französische Rechtsanwältin

Alle Urheberrechte vorbehalten

Bilder: alexberenguer

Schreibe einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.

* Pflichtangabe

Sie haben eine rechtliche Frage und brauchen einen Rechtsanwalt ?