Gültigkeitsdauer einer beglaubigten Abschrift des Europäischen Nachlasszeugnisses
20.05.21

Die Nützlichkeit des Europäischen Nachlasszeugnisses
Die Verordnung (EU) Nr. 650/2012 hat ein Europäisches Nachlasszeugnis eingeführt. Dieses soll den Erben, Vermächtnisnehmern, Testamentsvollstreckern oder Nachlassverwaltern ermöglichen, in jedem Mitgliedsstaat ihre Eigenschaft als Rechtsnachfolger im Nachlass nachzuweisen. Mit anderen Worten: Das Europäische Nachlasszeugnis soll die Abwicklung von grenzüberschreitenden Erbschaftsfällen erleichtern und kann in einem anderen Mitgliedsstaat erstellt und verwendet werden. So sieht Artikel 69 vor: „Das Zeugnis entfaltet seine Wirkungen in allen Mitgliedstaaten, ohne dass es eines besonderen Verfahrens bedarf.“
Darüber hinaus sieht Artikel 70 dieser Verordnung vor, dass die Ausstellungsbehörde dem Antragsteller und jeder anderen Person, die ein berechtigtes Interesse nachweist, eine oder mehrere beglaubigte Abschriften des Zeugnisses ausstellt, wobei präzisiert wird, dass die beglaubigten Abschriften „für einen begrenzten Zeitraum von sechs Monaten gültig“ sind, außer in ordnungsgemäß begründeten Ausnahmefällen, in denen die Ausstellungsbehörde die Gültigkeitsfrist der beglaubigten Abschrift verlängern kann.
Um die komplexen Formalitäten im Zusammenhang mit einem deutsch-französischen Erbfall zu erledigen, ist der Rat eines Rechtsanwalts wertvoll. Es ist empfehlenswert, sich von diesem Fachmann unterstützen zu lassen.
Beglaubigte Abschrift eines Europäischen Nachlasszeugnisses
In einem vor den österreichischen Richtern und aktuell beim Gerichtshof der Europäischen Union anhängigen Verfahren haben Gläubiger die Freigabe von hinterlegten Vermögenswerten, die sich in gerichtlicher Zwangsverwaltung befinden, gefordert. Der erste Gläubiger, Vater der Antragsteller auf Freigabe von Vermögenswerten, verstarb am 05.05.2017 in Spanien. Da sein letzter gewöhnlicher Aufenthaltsort Spanien war, wurde das Erbschaftsverfahren in diesem Land vor einem Notar nach spanischem Recht abgewickelt. Um nachzuweisen, dass sie die Erben ihres Vaters waren, haben die Antragsteller eine beglaubigte Abschrift eines von einem spanischen Notar ausgestellten Europäischen Nachlasszeugnisses vorgelegt. In der besagten Abschrift wurde angegeben, dass sie auf unbestimmte Zeit ausgestellt wurde.
Gültigkeitsdauer der beglaubigten Abschrift des Europäischen Nachlasszeugnisses
Der österreichische Richter in erster Instanz hat die Freigabe der Hinterlegung am 17.09.2018 abgelehnt. Am 28.01.2019 hat der Berufungsrichter diese Entscheidung unter anderem mit der Begründung bestätigt, dass die Abschrift des Zeugnisses, damit sie legitim ist, nicht nur zum Zeitpunkt der Antragstellung, sondern auch zum Zeitpunkt der in erster Instanz ergehenden Gerichtsentscheidung gültig ist.
Die Erben sind daraufhin vor dem österreichischen Obersten Kassationshof in Revision gegangen. Letzterer hat dem Gerichtshof mehrere Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt, darunter die Frage, ob die beglaubigte Abschrift in zeitlicher Hinsicht eine Legitimation des Europäischen Nachlasszeugnisses bewirken kann. Es geht darum, herauszufinden, zu welchem genauen Zeitpunkt die Behörde, der die Abschrift vorgelegt wurde, überprüfen muss, ob diese in zeitlicher Hinsicht gültig oder immer noch gültig ist.
Standpunkt des Staatsanwalts
Da der Gerichtshof regelmäßig die Position des Staatsanwalts übernimmt, gibt der Schriftsatz des Staatsanwalts oft einen Hinweis darauf, wie der Gerichtshof entscheiden wird. Im vorliegenden Fall wird der Standpunkt des Staatsanwalts Manuel Campos Sanchez-Bordona wie folgt veröffentlicht: EuGH, Schriftsatz, 29.04.2021, Akte C-301/20, HC gegen Vorarlberger Landes- und Hypotheken Bank AG
Hierfür kommen grundsätzlich zwei Standpunkte in Betracht:
- die Prüfung erfolgt unter Berücksichtigung des Datums, an dem der auf die Abschrift gestützte Antrag gestellt wird;
- diese Prüfung könnte zudem bezogen auf den Zeitpunkt erfolgen, in dem die zuständige Behörde über diesen Antrag entscheiden muss.
Datum der Vorlage der beglaubigten Abschrift
Der Staatsanwalt interessiert sich insbesondere an der Bestimmung des Zeitpunkts, der bei der Prüfung der Gültigkeit der Abschrift zu berücksichtigen ist (die, zur Erinnerung, auf sechs Monate begrenzt ist, außer in Ausnahmefällen). Für Manuel Campos Sanchez-Bordona ist zunächst zu prüfen, ob der für die Beurteilung der zeitlichen Gültigkeit der Abschrift entscheidende Zeitpunkt durch die Anwendung der Verordnung Nr. 650/2012 bestimmt werden kann oder ob es im Gegenteil keine Regelung auf europäischer Ebene gibt.
Nach Ansicht des Staatsanwalts ergibt sich die Antwort aus der Verordnung (EU) Nr. 650/2012 selbst. Für ihn sind einige ihrer Formulierungen sowie der Gründe, die darauf abzielen, die Nachlassabwicklung zu erleichtern, sprechen dafür, dass der relevante Zeitpunkt für die Entscheidung, ob eine Abschrift in zeitlicher Hinsicht gültig ist, der Zeitpunkt ihrer Vorlage in dem Verfahren ist, das auf den Erlass einer Entscheidung auf ihrer Grundlage gerichtet ist. Er fügt hinzu, dass eine einheitliche Antwort für die gesamte Union im Sinne der Rechtssicherheit zweifellos den Vorzug verdient und dass eine solche einheitliche Antwort zudem die gleiche Wirkungsentfaltung eines Zeugnisses gewährleistet, wenn seine Abschriften gleichzeitig zur Berücksichtigung in mehr als einem Mitgliedstaat vorgelegt werden. ‑
In systematischer Hinsicht stellt der Staatsanwalt fest, dass die Verordnung Formulierungen enthält, die das Erfordernis der zeitlichen Gültigkeit der Abschrift an den ersten Zeitpunkt knüpft, zu dem ihr Inhaber sie der Behörde, die über seinen Antrag entscheiden muss, vorlegt.
Zweitens ist der Generalanwalt der Ansicht, dass die These, nach der die erste Vorlage einer Abschrift den entscheidenden Moment für die Beurteilung ihrer zeitlichen Gültigkeit darstellt, auf Argumente zurückgeht, die mit den Zielen, die der Regelung dieser Urkunden zugrunde liegen, im Zusammenhang stehen. Da das Hauptziel der Verordnung die Beschleunigung der Abwicklung von Erbsachen ist, wäre es kontraproduktiv, als Zeitpunkt für die Prüfung der Gültigkeit der beglaubigten Abschrift nicht den Zeitpunkt ihrer erstmaligen Vorlage anzusetzen, da dies zu Verzögerungen und zusätzlichen Anstrengungen führen würde.
Der Staatsanwalt beendet seine Analyse jedoch mit dem Hinweis, dass es denkbar ist, dass sich nach dem ursprünglichen Zeitpunkt der Vorlage der Abschrift Zweifel oder Anhaltspunkte ergeben, dass das Zeugnis berichtigt, geändert, widerrufen oder ausgesetzt werden musste, sodass die Abschrift möglicherweise nachträglich nicht mehr mit dem Zeugnis selbst übereinstimmt. In einem solchen Fall sollte die zuständige Behörde die Vorlage einer neuen oder verlängerten Abschrift verlangen können.
Schlussantrag des Staatsanwalts
Aufgrund der vorstehenden Ausführungen schlägt der Staatsanwalt dem Gerichtshof der Europäischen Union vor, zu antworten, „dass die Wirkung der beglaubigten Abschrift eines Nachlasszeugnisses anzuerkennen ist, wenn sie bei ihrer erstmaligen Vorlage noch gültig war, aber vor der beantragten Entscheidung der Behörde abgelaufen ist.“ Mit anderen Worten: Solange die beglaubigte Abschrift des Zeugnisses gültig war, als der Antrag bei der zuständigen Behörde eingereicht wurde, muss das Europäische Nachlasszeugnis seine Wirkungen entfalten, auch wenn die Gültigkeit der besagten Abschrift abläuft, bevor die Behörde ihre Entscheidung getroffen hat.
Der Staatsanwalt schränkt seinen Antwortvorschlag jedoch ein, wonach diese Behörde ausnahmsweise die Vorlage einer neuen Abschrift oder einer ‑verlängerten Abschrift verlangen, wenn Grund zu der Annahme besteht, dass das Europäische Nachlasszeugnis vor ihrer Entscheidung berichtigt, geändert, widerrufen oder in seiner Wirksamkeit ausgesetzt worden ist.
Es bleibt abzuwarten, ob der Gerichtshof der Europäischen Union dieser Analyse folgen wird.
Françoise Berton, französische Rechtsanwältin
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Bild: Chokniti